Tracy Chevalier: Das Geheimnis der Glasmacherin


In der Lagune Venedigs liegt die Insel Murano, Wiege der Glaskunst. Hier fließt die Zeit anders, sanft wie das Wasser in den Kanälen. Doch der tragische Tod des Glasvirtuosen Lorenzo Rosso bringt die Welt zum Stillstand. In ihrer Verzweiflung nimmt seine Tochter Orsola das Schicksal der Familie in die Hand. Mutig kämpft sie gegen alle Konventionen und erlernt im Verborgenen das Handwerk ihres Vaters. Ihr gläsernes Geheimnis, zart wie die Perlen, die sie formt, trägt sie durch die Zeiten, und das Leben der jungen Frau verschmilzt mit den Geheimnissen der Stadt. Orsolas Geschichte ist die Geschichte einer Frau, für die der Glaube an die Liebe und das Vertrauen auf sich selbst alles überdauern, und zugleich eine Liebeserklärung an eine der romantischsten Städte der Welt.

Roman

Atlantik (2024)

Originaltitel: The Glassmaker

ISBN 978-3-455-01812-7

EUR 25,00




Leseprobe

Wenn Sie einen flachen Stein geschickt über das Wasser werfen, wird er viele Male in unterschiedlichen Abständen die Oberfläche berühren.

Ersetzen Sie, mit diesem Bild im Kopf, Wasser durch Zeit.

Beginnen Sie am Nordufer von Venedig, den Stein in der Hand, den Blick auf die Glasinsel Murano gerichtet, eine halbe Stunde mit der Gondel entfernt. Werfen Sie den Stein noch nicht. Es ist das Jahr 1486, der Höhepunkt der Renaissance, und Venedig genießt seine Stellung als Handelszentrum von Europa und einem Großteil der restlichen Welt. Es scheint, als würde die Stadt auf dem Wasser immer reich und mächtig sein.

Orsola Rosso ist neun Jahre alt. Sie lebt auf Murano, hat aber noch nicht mit Glas gearbeitet ...

 

Der Kanal war nicht so tief, wie Orsola gedacht hatte. Als sie hineinfiel, versetzte ihr die Kälte des Wassers einen Schock, sie schlug wild um sich und sank hinab, bis ihr Fuß den schlammigen Grund berührte. In dem Moment verlor das, was ihr so tief und mächtig erschienen war, plötzlich sein Geheimnis. Sie hörte, wie ihre Mutter aufschrie, aber ihr Bruder Marco lachte, als Orsola hustend und spuckend wieder auftauchte, denn das Wasser reichte ihr nur bis zu den Schultern.

„Du hast mich geschubst!“, schimpfte sie. „Cretino!“

„Orsola, basta!“, ermahnte sie Laura Rosso. „Die Leute gucken schon.“

Das taten sie. In den Eingängen der Glaswerkstätten entlang der Fondamenta standen lauter Muraneser und lachten über das Mädchen im Kanal.

„Ich hab dich nicht geschubst“, gab Marco zurück. „Du hast nicht aufgepasst und bist reingefallen, bauca! Was hab ich bloß für eine dumme Schwester!“

Orsola, ihre Mutter und ihre Brüder kamen von einem Besuch bei ihrer Tante und ihrer Großmutter auf der anderen Seite der Insel zurück. Ihrer Nonna ging es nicht gut, und sie hatte darauf bestanden, sie zu sehen, weil sie überzeugt war, ihr Ende sei nah. Aber sie war munter genug gewesen, um aufzustehen und Orsola ein Säckchen mit Pinienkernen zu geben, das sie vor kurzem auf dem Markt gekauft hatte, weil sie nicht wollte, dass sie ranzig wurden, falls sie tatsächlich starb. Zia Giovanna hatte nur mit den Augen gerollt, aber Orsola hatte das Säckchen sorgsam entgegengenommen und ihrer Großmutter versprochen, sie werde es Maddalena geben, ihrer Magd. Die Rossos waren gerade am Rio dei Vetrai entlanggegangen – dem Kanal der Glasmacher, der durch den Teil von Murano lief, wo viele der Glaswerkstätten lagen –, als Marco ihr einen kräftigen Stoß versetzt hatte, sodass sie ins Wasser gefallen war. Immerhin hatte sie die Geistesgegenwart besessen, das Säckchen mit den Pinienkernen im Fallen hinter sich zu werfen. Darauf wies die Familie später jedes Mal hin, wenn sie die Geschichte jemandem erzählte: dass die kleine Orsola so klug gewesen war, die kostbaren Pinienkerne nicht zu verschwenden.

Giacomo, schon immer der nettere Bruder und deshalb der weniger interessante, kletterte vorsichtig die algenbedeckten Stufen in der Nähe hinunter, kniete sich in den Schlamm und zog Orsola die glitschigen Stufen hinauf. Keuchend und spuckend landete sie auf der Fondamenta, wo sie von Scham erfüllt liegen blieb. Nur Betrunkene fielen in den Kanal, oder Leute, die sich im Dunkeln verlaufen hatten.

Laura Rosso half ihrer Tochter auf und begann sie mit ihrem Umhängetuch abzutrocknen. „Du bist ganz kalt und schmutzig“, brummte sie. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die Leute nicht länger zu ihnen herüberstarrten, wies sie mit dem Kopf auf eine Tür in der Nähe. „Du solltest zu den Baroviers gehen und dich an ihrem Schmelzofen aufwärmen.“

„Das geht nicht“, widersprach Giacomo. „Die lassen sie doch niemals rein.“

„Sie werden aber nicht zulassen, dass ein Mädchen sich den Tod holt, selbst wenn es die Tochter eines Konkurrenten ist.“ Mit berechnender Miene blickte Laura durch das elegante Gitterfenster in der Tür, dann öffnete sie sie und winkte ihre Tochter herbei. „Keinen Mucks. Halt die Augen offen und erzähl hinterher, was du gesehen hast.“

Orsola zögerte, aber mit ihrer Mutter debattierte man besser nicht. Außerdem war sie nass und fror, und der Ofen war verlockend; sie hörte sein gedämpftes Dröhnen. Vorsichtig schlich sie sich in den Durchgang. Ihre Mutter zog die Tür wieder zu und trennte sie damit von ihrer Familie. Als sie durch das kleine Fenster blickte, sah sie Marcos Grinsen, Giacomos besorgtes Gesicht und Laura, die sie mit einer Handbewegung vorwärts scheuchte.

Orsola folgte dem Gang in einen Hof, der menschenleer war, aber voller Kisten und Karren mit zerbrochenem Glas, Stapeln von Holzscheiten und langen Glasstäben in vielen verschiedenen Farben, die an der Wand lehnten. Der Boden glitzerte von winzigen Glassplittern, als wäre er mit buntem Raureif bedeckt. Der Hof wirkte ziemlich unordentlich. Drumherum lagen mehrere kleine Gebäude: ein Lager für Rohglas sowie Asche, Sand und Kalk, um es herzustellen; ein weiterer Lagerraum, dessen Tür einen Spalt offenstand, sodass sie Regale voller Schalen, Platten und Teller sehen konnte, Vasen in verschiedenen Größen, Formen und Farben, endlose Reihen von Gläsern und mehrere Kandelaber, ineinander verschlungen wie Tintenfische – und alles wartete darauf, verpackt und nach Amsterdam, Lissabon, London, Hamburg oder Konstantinopel geschickt zu werden, Städte, die ihr Vater manchmal erwähnte. Ein wenig abseits war ein kleiner Laden, in dem Besucher eine Auswahl fertiger Produkte kaufen konnten.

Die Anordnung bei den Baroviers ähnelte der in der Werkstatt von Orsolas Familie, allerdings war die kleiner, und Lorenzo Rosso legte größten Wert auf Ordnung und Sauberkeit. Seine Lehrlinge beschwerten sich, dass sie in den ersten Monaten nur Werkzeuge bereitlegen und Karren hin und her schieben durften und nie mit heißem Glas zu tun hatten. Jede Werkstatt hatte ihren eigenen Stil, gemäß dem Charakter des Maestro. Offenbar gehörte Maestro Giovanni Barovier zu den Unordentlichen.

Dennoch waren die Baroviers die berühmteste Familie der Glaswelt. Aus diesem Durcheinander hatte Giovannis Vater Angelo Barovier zahllose Erfindungen hervorgebracht, darunter auch das cristallo veneziano – Klarglas, das die Arbeit auf Murano grundlegend veränderte, als anderen Maestri gestattet wurde, es zu kopieren – und calcedonio, ein Glas, das aussah wie der Halbedelstein Chalzedon. Die Baroviers waren auch die ersten, die Glas zu langen Stäben gezogen hatten, wie sie jetzt alle Glasmacher für die Dekoration ihrer Kelche, Kronleuchter und Teller verwendeten. Angelo war schon vor Jahren gestorben, aber Giovanni führte die sorgsam gehüteten Traditionen fort. Alle Glasfamilien hatten ihre Geheimrezepturen, die sie für sich behielten. Niemand wollte, dass Eindringlinge kamen und ihnen über die Schulter sahen.

Am Eingang zur Werkstatt zögerte Orsola. Sie konnte den Schmelzofen hören und Männerstimmen, die einander bei der Arbeit etwas zuriefen. Warum war sie hier? Bestimmt würde man sie entdecken und hinauswerfen wie eine kaputte Schale. Doch ihre Mutter war sehr entschieden gewesen, und so öffnete sie die Tür einen Spalt und schlüpfte mit einem Knoten im Magen hinein.

Die Werkstatt war voller Männer, die Hefteisen – lange Eisenstäbe – mit Kugeln aus geschmolzenem Glas am Ende in den Ofen schoben und wieder hinauszogen, sie drehten, das Glas auf einer flachen Metallplatte hin und her bewegten, es in verschiedene Holzformen drückten und fertige Stücke in den Kühlofen legten, damit sie langsam erkalten konnten. Jungen kümmerten sich um das Feuer, fegten und trugen Eimer mit Wasser hin und her. Alle bewegten sich um den Maestro herum, der an seiner Werkbank saß. Orsola kannte diese eigentümliche Geschäftigkeit, obwohl die Werkstatt der Baroviers größer und lauter war als die von Lorenzo Rosso, mit mehr Gepfeife und Gebrüll. Sorgsam dem Getümmel aus dem Weg gehend, schlich sie näher an den Ofen heran. Doch einer der garzonetti bemerkte sie – einer der Jungen, die sich rund um den Schmelzofen nützlich machten, in der Hoffnung, eines Tages garzone zu werden, Lehrling des Glasmacherhandwerks. Er fegte den Boden und erstarrte, als er sie sah. Orsola hob den Finger an die Lippen. Sag nichts, flehte sie lautlos. Verrat mich nicht.

Dann entdeckte sie jemanden inmitten all der Männer, der sie den garzonetto vergessen ließ: eine Frau, die sich ein wenig abseits hielt, die Hände in die Hüften gestemmt. Alles an ihr wirkte eckig: die Schultern, die Stirn, sogar der Knoten ihres hochgesteckten grauen Haars. Während alles um sie herum in Bewegung war, stand sie nur da und rührte sich nicht.

Das war Maria Barovier, Tochter von Angelo und Schwester von Maestro Giovanni. Orsola wusste von dieser Frau, hatte sie aus der Entfernung gesehen, wie sie die Riva entlangstapfte oder den Campo Santo Stefano überquerte oder in der Heiligen Messe saß, die Augen geschlossen, als schliefe sie, das Kinn kantig wie ein Spaten. Maria Barovier war eine der ganz wenigen Frauen unter den Glasmachern, und sie war berüchtigt für ihre scharfe Zunge. Sie wurde Marietta genannt, aber Orsola fand, diese Koseform passte nicht zu einer so Ehrfurcht gebietenden Frau.

Sie betrachtete einen dicken Glasstab, den ihr einer der garzoni hinhielt – ein Jüngling mit schmalem Gesicht, der ein oder zwei Jahre älter war als Orsolas Bruder Marco. „Nein. Das Rot muss mehr zu sehen sein, wegen der Ausgewogenheit, sonst wird die Perle vom Weiß und Blau dominiert. Hörst du denn nie zu?“ Ihre Stimme klang tief und verärgert. „Wo ist die Holzform? Ich werde es dir noch mal zeigen müssen, und allmählich bin ich es leid.“

Der Junge wirkte so verängstigt wie die meisten neuen garzoni, wenn sie sich ihrer Anstellung noch nicht sicher waren. Als er sich von seiner Dienstherrin abwandte, fiel sein Blick auf Orsola. Seine Augen waren sehr dunkel, fast schwarz, und Orsola fühlte sich plötzlich wie gelähmt.

Maria Barovier folgte seinem Blick. Ihr Stirnrunzeln ließ nicht nach, nicht einmal als sie den Algenschleim auf Orsolas Kleid bemerkte. „Raus, Rosso“, herrschte sie sie an. „Spia.“

Orsola floh und bekam in ihrer Hast zunächst die Tür nicht auf. Die Männer, ganz mit ihrem Glas beschäftigt, drehten sich nicht einmal um; um das Drama sollten sich Frauen und Lehrlinge kümmern. Knirschend lief sie über die Splitter im Hof zum Tor und floh hinaus auf die Fondamenta dei Vetrai. Obwohl sie nur wenige Augenblicke fort gewesen war, kam es ihr vor, als wären es Stunden gewesen, als hätte sie eine neue Welt betreten und wieder verlassen. Ihre Familie war nicht mehr da. Sie würden zu Hause auf sie warten, und ihre Mutter würde einen ausführlichen Bericht hören wollen, dabei hatte Orsola kaum etwas gesehen. Glasfamilien waren nicht unfreundlich, aber ihre Werkstätten, ihre Arbeit, ihre Geheimnisse wurden nicht geteilt. Ab und zu tranken die Maestri zusammen, spielten Karten und schimpften über Zölle oder Kaufleute vom Rialto auf der anderen Seite der Lagune, die versuchten, sie übers Ohr zu hauen, oder über den launischen Rat der Zehn, der immerzu neue Vorschriften erließ, was sie produzieren durften und was nicht. Aber sie sprachen nie über das Glas, das sie herstellten. Es war typisch für die Muraneser, dass sie zusammenhielten, wenn es um ihre Insel und das gemeinsame Handwerk ging, aber die Arbeit der Konkurrenten hinter deren Rücken kritisierten: unsaubere Technik, abgekupferte oder langweilige Gestaltung. Ihre eigene war stets besser.

Orsola hatte nur ganz kurz am Ofen der Baroviers gestanden und war immer noch nass und fror. Sie lief über die Fondamenta und den Ponte di Mezzo nach Hause. Bruno, ein stämmiger junger Bootsführer, den jeder auf Murano kannte, ruderte den Kanal entlang und kam gerade auf die Brücke zu. Er zeigte mit dem Ruder auf die Algen, die sich über ihr Kleid zogen. „Na, du Schlammzwerg?“, rief er. „Dein Bruder hat mir erzählt, dass du in den Kanal gesprungen bist. Wolltest wohl Meerjungfrau spielen, was? Oder Delfin?“

„Ich bin nicht gesprungen! Er hat mich geschubst.“

Bruno lachte. „Welchem Rosso soll ich denn jetzt glauben?“

Sie warf ihm einen wütenden Blick zu und lief weiter, ohne auf die Bemerkungen der Nachbarn zu achten, wie schmutzig sie war und wie ungeschickt. Als sie beim Haus der Rossos ankam, stieß sie das Eisentor auf, das in den Werkstatthof führte. Auf der einen Seite befanden sich die Lagerräume, auf der anderen der Innenhof und das Wohnhaus der Familie. Am hinteren Ende lag die Werkstatt mit dem Schmelzofen, der Tag und Nacht brannte. Er durfte niemals ausgehen, außer im August, wenn es zu heiß für die Arbeit war und die Glasmacher ihre Sommerpause einlegten. Ein Durchgang neben der Werkstatt führte zu einem kleinen Anleger, wo Boote die fertigen Teile einluden, um sie zu den Kaufleuten nach Venedig zu bringen, oder Sand für die Glasherstellung und Holz für den Ofen anlieferten. Unentwegt kamen Boote mit Brennholz von der terraferma, dem Festland, wo es viel mehr Bäume gab als auf den Inseln.

Orsola wäre gerne in die Werkstatt gegangen, um sich am heißen Ofen aufzuwärmen und zu trocknen, aber ihre Mutter erwartete sicher, dass sie sofort vor ihr erschien. Und so bog sie stattdessen in den Innenhof ab und ging zur Küche, wo es ebenfalls einen Ofen gab, wenn auch kleiner, denn zum Kochen musste er nicht so heiß sein wie für das Schmelzen von Glas. Manchmal schob Maddalena, wenn sie eine besonders starke oder schwache Hitze brauchte, Töpfe in die verschiedenen Kammern des Werkstattofens, obwohl Lorenzo es nicht gerne sah, wenn sie in sein Reich eindrang.

In der Küche saß Marco an dem langen Tisch, wo die Familie die Mahlzeiten einnahm, wenn es im Innenhof nicht warm genug war, um draußen zu essen. Er knabberte genüssliche die Pinienkerne ihrer Großmutter, während Laura Rosso Zwiebeln hackte und Maddalena Sardinen für sarde in saor briet, das süßsaure Gericht, das sie oft aßen.

„Dein Kleid!“, rief Maddalena aus. „Was hast du bloß angestellt? Zieh es sofort aus!“

Laura blickte von ihren Zwiebeln auf. „Das hat ja nicht lange gedauert. Was hast du gesehen?“

Ihre Neugier, verbunden mit Marcos Unbekümmertheit – er warf jetzt die Pinienkerne in die Luft und fing sie mit dem Mund – brachte Orsola auf den Gedanken, ob das Ganze geplant gewesen war; ob ihr Bruder sie absichtlich direkt vor der Werkstatt der Baroviers geschubst hatte, damit sie in den Kanal fiel und hineingehen musste.

„Es war viel Betrieb in der Werkstatt, lauter Männer“, begann sie.

„Woran haben sie gearbeitet?“

„Ich weiß nicht.“ Sie hatte mehr auf Maria Barovier geachtet als auf den Maestro. „Kelche, glaub ich.“ Die meisten Glasmacher fertigten Weingläser an, damit konnte sie also nicht viel falsch machen.

„Du hast nicht mal mitgekriegt, woran sie gearbeitet haben!“, höhnte Marco. „Bauca! Du hättest besser mich reingehen lassen, Madre.“

Also war es tatsächlich geplant gewesen. Ein bisschen freute sie sich, dass sie dafür ausgewählt worden war und nicht ihr Bruder.

Maddalena nahm ihm das Säckchen mit den Kernen weg. „Schluss jetzt, sonst sind nicht mehr genug für das saor übrig!“

„Maria Barovier war da“, fuhr Orsola fort.

„Marietta?“ Laura Rosso ließ das Messer sinken. „Was hat sie gemacht?“

„Sie hat mit einem garzone gesprochen. Geschimpft, genauer gesagt, wegen eines Glasstabs.“

„So, so. Hast du den Stab gesehen?“

Orsola nickte.

„Wie dick?“

„Wie Papàs Daumen.“

„Welche Farbe hatte er?“

„Rot, weiß und blau.“

„Seltsame Mischung.“

„Sie hat gesagt, das Rot wäre wichtig, für die Ausgewogenheit.“ Orsola stutzte. „Rosso“, wiederholte sie. Der Name ihrer Familie. Plötzlich fiel ihr auf, dass Maria Barovier gewusst hatte, dass sie eine Rosso war. Aber sie sagte ihrer Mutter nicht, dass die Glasmacherin sie eine Spionin genannt hatte. „Er war für Perlen gedacht. Sie hat von einer Holzform gesprochen.“

„Perlen! Rot-weiß-blaue Perlen. Und nicht nur aus einem Stab, sondern auch noch geformt“, sagte ihre Mutter nachdenklich. „Per favore, zieh das schmutzige Kleid und das Hemd aus und such dir etwas Trockenes. Und kein Wort über diese Perlen, zu niemandem. Ich muss mit deinem Vater sprechen.“

Orsola schlüpfte aus ihren nassen Sachen und warf sie auf den Haufen mit schmutziger Wäsche, der niemals kleiner zu werden schien. Die Männer und Jungen in der Werkstatt schwitzten wegen der Hitze des Ofens so sehr, dass sie jeden Tag ihre Kleider wechseln mussten, und sie und ihre Mutter waren unentwegt dabei, Wasser zu erhitzen, Wäsche in einem Fass mit Lauge umzurühren, die auf der Haut brannte, Hemden, Hosen und Unterwäsche zum Trocknen aufzuhängen oder nasse Laken zum Bleichen auf der Wiese hinter dem Kloster Santa Maria degli Angeli auszubreiten. Laura Rosso hasste das Waschen, und Orsola ahnte, dass ihre Mutter ihr die Aufgabe ganz übertragen würde, sobald sie alt genug war, um es allein zu schaffen.

An dem Abend saß Orsola mit Giacomo in einer Ecke der Küche und ließ eine Murmel hin und her rollen, die Paolo, der Geselle ihres Vaters, für sie gemacht hatte. Marco stocherte im Feuer herum. Lorenzo trank Wein, während Laura einen Flicken auf den Ärmel seines Hemds nähte, wo ein Stück heißes Glas ein Loch hineingebrannt hatte.

„Marietta Barovier macht etwas Neues“, sagte Laura zu ihrem Mann. „Ich habe Gerüchte von den Frauen einiger Maestri gehört. Jetzt weiß ich es. Sie macht Perlen.“

„Perlen?“, erwiderte Lorenzo Rosso. „Das ist nichts, weswegen wir uns sorgen müssten.“

„Es scheinen besondere Perlen zu sein. Aufwändige Perlen, die sich vielleicht gut verkaufen.“

„Aber wir stellen keine Perlen her, also ist es keine Konkurrenz für uns.“

„Vielleicht sollten wir.“

„Vielleicht sollten wir was?“

„Perlen herstellen“, sagte Laura gereizt, als wäre ihr Mann schwer von Begriff.

Er schüttelte den Kopf. „Wir können gut von Gläsern, Krügen und Schalen leben. Wenn wir damit anfangen wollten, müssten wir Stäbe ziehen, und das können meine Männer nicht.“ Um einen Stab herzustellen – ob zur Perlenherstellung oder für andere Glasarbeiten –, mussten zwei Männer ein Stück geschmolzenes Glas zwischen sich auseinanderziehen, bis es einen langen, dünnen Zylinder bildete. Dazu brauchte man viel Platz und Fähigkeiten, die andere bereits perfektioniert hatten. Die Rossos kauften Stäbe von anderen Glasmachern, anstatt selbst welche anzufertigen. Außerdem beschränkte Lorenzo das Angebot seiner Werkstatt auf Gläser, Krüge und Schalen, weil er der Ansicht war, es sei besser, Dinge herzustellen, die die Leute immer brauchen würden, statt kunstvolle Kronleuchter und Kerzenständer. Es war eine traditionelle, bodenständige Werkstatt, die immer Aufträge haben, aber niemals reich werden würde.

„Willst du es nicht trotzdem mal durchrechnen?“, beharrte seine Frau. „Die Kosten für den Kauf eines Stabs durch die Anzahl der Perlen teilen, die du daraus herstellen könntest? Und schauen, wie viel sich damit verdienen ließe?“

Lorenzo Rosso warf ihr einen kurzen Blick zu, und Orsola wusste, was er bedeutete: Schluss mit den Fragen.