Laura Spence-Ash: Und dahinter das Meer


London 1940: Um ihre elfjährige Tochter vor Luftangriffen zu schützen, beschließen die Thompsons schweren Herzens, Beatrix für ungewisse Zeit zu einer Gastfamilie in die USA zu schicken. Nach der langen Schiffspassage trifft Bea wütend und verängstigt in Boston ein, aber schon bald fühlt sie sich bei den Gregorys zu Hause, während ihre Erinnerungen an das Leben in England langsam verblassen. Mit ihren Gasteltern und deren Söhnen William und Gerald teilt Bea nicht nur ihren neuen Alltag, sondern verbringt auch unvergessliche Sommer im Ferienhaus der Familie in Maine. Doch ausgerechnet als Bea sich zu fragen beginnt, ob William mehr für sie sein könnte als ein Bruder, kommt der Tag, an dem sie nach London zurückkehren muss. Kann die einstige Heimat je wieder zu ihrem Zuhause werden? Und wird Bea William wiedersehen?

Roman

Mare (2024)

Originaltitel: Beyond That, the Sea

ISBN 978-3-86648-702-4

EUR 25,00




Leseprobe

Erster Teil

 

1940-1945

 

 

Reginald

 

Am Abend lässt Reginald die Jungs im Pub wissen, wie stolz er ist. Jedem, der hereinkommt, erzählt er von Neuem davon, wie es war, als Beatrix weggefahren ist. Sie stellen Fragen, wollen Einzelheiten wissen. Diejenigen, deren Kinder schon fort sind, kennen die Geschichte bereits, oder eine Variante davon. Wie heiß und schwül es morgens gewesen war. Wie sie im Ballsaal des Grosvenor Hotel gestanden haben und wie er sich vor sie hingekniet hat, als es Zeit war zu gehen. Wie Beatrix zu seinen Abschiedsworten genickt hat, das Gesicht zu ihm geneigt, aber den Rücken ganz gerade. Wie tapfer sie gewesen ist; sie hat nicht geweint, obwohl er Tränen in ihren Augen gesehen hat.

Einen Tag später kann er sich nicht mehr genau erinnern, was er zu ihr gesagt hat, als er vor ihr auf dem Boden kniete. Im Stillen sorgt er sich, dass er das Wichtigste vergessen hat. Aber an dem Abend erzählt er allen im Pub, wie stark sie gewesen ist. Mein tapferes elfjähriges Mädchen. Er erfindet die Worte, die sie zueinander gesagt haben. Und er verschweigt, dass er und Millie sich mit aller Kraft zusammengerissen haben, als sie sich von Beatrix abwandten und durch die Menge nach draußen gingen, dass er eigentlich noch nicht bereit dazu war. Er glaubt nicht, dass er je bereit dazu sein wird.

Immer wieder hat er denselben Traum: Er geht in voller Montur ins Meer, die nassen Kleider schwer an seinem Körper. Er schiebt die Wellen beiseite, geht tiefer hinein, und dann ist er mit einem Mal wieder in dem Ballsaal, auf dem Weg nach draußen, während andere hineinstreben. Er streift sie mit den Schultern und vermeidet es, in ihre Gesichter zu blicken, denn er weiß, dass in ihren Augen dieselbe Fassungslosigkeit steht wie in seinen, weil sie hier sind, weil sie die Entscheidung getroffen haben, ihre Kinder weit fort zu schicken. Allein, übers Meer. Erst als sie auf der Straße vor dem Hotel waren, in der schwülen Luft, unter den schweren grauen Wolken, fing Millie an zu weinen und flehte ihn an, umzukehren und ihr Mädchen zurückzuholen. Er hat ihre Hand genommen und sie weggezogen. In seinem Traum streckt er beide Hände aus und wünschte, er könnte das Schiff packen, auf dem sein Kind jetzt ist, und es drehen, seinen Kurs ändern. Und er reckt die Arme und versucht, das Land zu berühren, wo sie von nun an leben wird.

Die Geschichte, die er den Jungs erzählt, ist nur die halbe Wahrheit. Beatrix hat geweint, sich an ihn geklammert, die Arme um seine Taille geschlungen. Sie hat Millie die Schuld an allem gegeben, hat sich geweigert, sich von ihr zu verabschieden, war die ganzen vierundzwanzig Stunden – von dem Moment an, als sie es ihr gesagt haben, bis zum Aufbruch – wütend auf sie. Dabei war es Reginald, der darauf bestanden hatte, sie müsse weg, weil er wusste, dass die Bomben immer näher kamen und es keine Möglichkeit gab, Beatrix oder überhaupt jemanden von ihnen davor zu beschützen. Sein älterer Bruder war im letzten Krieg gewesen, deshalb wusste Reginald, was auf sie zukam. Der Krieg hatte einen langen Schatten über seine Kindheit geworfen, hatte ihn die schneidende Angst gelehrt. Es war eine schwere Entscheidung für ihn und Millie gewesen. Besser, sie geht nach Amerika, hatte er gedacht, da wird der Krieg sie nicht so leicht zu fassen bekommen. Aber er hatte Beatrix nie erzählt, dass er Millie keine andere Wahl gelassen hatte. Er ließ sie in dem Glauben, dass es Millies Entscheidung gewesen war.

 

 

 

 

Millie

 

Millie wird die Wut nicht los. Die von Beatrix auf sie, weil sie sie zum Weggehen gezwungen hat, und ihre eigene auf Reg, weil er ihrem Flehen nicht nachgegeben hat. Lass mich mit ihr gehen, hat sie gesagt. Und dann später, mitten in der Nacht, als sie beide schlaflos und ohne sich zu berühren an die Decke starrten: Lass sie hierbleiben. Wir haben den Luftschutzkeller und die U-Bahn. Wir können zu meinen Eltern aufs Land. Ich kann sie beschützen, flüsterte sie immer wieder. Ich kann sie beschützen. Aber Regs Entschluss stand fest.

Sie hat sich nie für einen wütenden Menschen gehalten. Gefühlsbetont, ja. Stur, auf jeden Fall. Doch jetzt fließt sie über von Kummer und Zorn. Sie kann sich nicht vorstellen, dass sie Reg jemals verzeihen wird. Und sie weiß, dass sie sich selbst niemals verzeihen wird. Wieder und wieder steht sie im Ballsaal, durchlebt die letzten Augenblicke, spürt die warme Wange ihrer Tochter.

Sie heftete Beatrix das Schild an die Brust, das der Mann ihr gegeben hatte. Trotz der Hitze an diesem Tag waren ihre Hände eiskalt, und sie rieb sie mehrmals fest aneinander, bevor sie in Beatrix’ Kleid griff, um die Sicherheitsnadel vorsichtig zu befestigen. Auf dem Schild stand außer dem Namen eine lange Nummer, und Millie prägte sie sich ein, damit sie sie niemals wieder vergaß. Vielleicht wäre das die einzige Möglichkeit, ihre Tochter wiederzufinden. Auf dem Heimweg überkam sie Panik, weil sie nicht mehr genau wusste, ob die letzte Zahl eine Drei oder eine Sechs war.

Am Abend davor hatte sie Beatrix in der kleinen Küche die Haare gewaschen und geschnitten, mit einem Handtuch als Unterlage. Beatrix trug nur ihre Unterwäsche. Millie kämmte das nasse Haar vor dem Schneiden aus und staunte, dass die dicken Strähnen Beatrix schon fast bis zur Taille reichten. Als sie ihre Tochter umdrehte, um die Vorderseite auszukämmen, fiel ihr auf, dass deren Brüste zu sprießen begannen, und begriff, dass sie sich verändert haben würde, wenn sie einander wiedersahen. Sie würde kein kleines Mädchen mehr sein. Und da war die Wut wieder, doch jetzt war sie in ihren Händen, und so schnitt sie, ohne nachzudenken, ihrer Tochter das Haar bis zum Kinn ab. Die Schere schnippte, lange Locken fielen zu Boden, das weiße Handtuch wurde braun, und Beatrix weinte. Millie schnitt den dichten, dunklen Pony zu einer strengen Linie quer über die Stirn. Diesen Haarschnitt hatte sie ihr, als sie klein war, alle drei Wochen verpasst.

Jetzt kann sie nicht mehr schlafen. Sie liegt in Beatrix’ Bett, die Knie an die Brust gezogen. Sie versucht sich vorzustellen, wo ihr Mädchen jetzt ist, irgendwo mitten auf dem Atlantik. Hat sie Hunger? Ist sie einsam? Was für eine Angst sie haben muss, mit all dem tiefen Wasser, das das Schiff umschlingt. Die hohen Wellen. Das endlose Meer. Millie schnuppert an einer Haarlocke, die sie in einen kleinen Pergaminumschlag geschoben und in ihrem Buch versteckt hat.

 

 

 

 

Beatrix

 

Beatrix hasst die neue Frisur. Sie sieht aus wie ein Kind. Wenn sie nach ihrem Haar greift, ist da nur ihr Hals. Alle Mädchen in der Kabine teilen sich einen kleinen Handspiegel, den eine von ihnen im Koffer mitgenommen hat. Beatrix streicht sich den Pony mit Hilfe von Wasser und Spucke aus der Stirn und verflucht lauthals ihre Mutter, zur Freude der Jüngeren unter ihnen.

Ihre Tage sind ausgefüllt. Sie ziehen sich an, helfen einander, die Rettungswesten aus Kork anzulegen, und gehen zum Frühstück, wo sie Schokoladeneis essen dürfen. Sie laufen in einer Horde von einem Ende des Schiffes zum anderen, wobei Beatrix sich immer am Handlauf festhält und, wenn möglich, an der Innenseite bleibt. Das Schiff fährt kaum geradeaus, sondern schlängelt sich zwischen den silbrigen Eisbergen hindurch, die in der Sonne glitzern. An Bord gibt es auch eine Horde Jungen, aber die sind wilder als die Mädchen, und Beatrix geht ihnen meist aus dem Weg. Nachmittags gibt es Zuckerkekse, die größer sind als ihre Hände. Die Spuckerei ist weniger geworden. In den ersten Tagen mussten sie sich ständig übergeben: in die kleinen Waschbecken, in die Mülleimer, in Kaffeedosen. Nachts, wenn Beatrix nicht schlafen kann, wenn die Jüngste im Bett unter ihr weint, geht sie an Deck und sieht hoch zu den Sternen. Sie wickelt sich in ihre Decke und legt sich in einen Liegestuhl, weit weg vom Rand. Es ist kalt und dunkel, und doch ist es vielleicht mit das Schönste, was sie je gesehen hat. Sie hätte sich nie vorstellen können, dass der Himmel so voll, so lebendig sein kann. Dass er eine solche Tiefe hat. Die Luft ist ganz klar. Sie fragt sich, ob sie jemals in Amerika ankommen. Es fühlt sich an, als würden sie sich nicht von der Stelle bewegen, obwohl das Schiff vorwärtsstampft. Was passiert wohl, falls der Krieg vorbei ist, während sie noch auf See sind? Werden sie umkehren und zurückfahren? Wie werden ihre Eltern davon erfahren?

Anfangs hat Beatrix Angst gehabt. Der verdunkelte Zug voller Kinder. Die Begleiterin, die „There’ll Always Be an England“ sang und eine kleine britische Flagge schwenkte. Die langen Feldbettenreihen in dem Fischereilager in Liverpool. Das riesige, mit einer schwarzen Plane bedeckte Schiff. Die Gangway, die bei jedem Schritt schwankte. Sie waren alle still und verängstigt, unsicher, wem sie vertrauen konnten. Fast alle Mädchen weinten. Beatrix nicht. Dad hatte gesagt, sie müsse stark sein.

Das ist nur ein paar Tage her, aber wenn Beatrix an die Abreise zurückdenkt, sind da nur noch Bruchstücke: Sie sitzt im Schneidersitz auf dem Fußboden in ihrem Zimmer, weigert sich zu helfen, sieht zu, wie ihre Mutter den kleinen braunen Koffer packt. Kleider, dreifach gefaltet, Socken, zu Bällen geschlungen, und obenauf ein flattriger, geblümter Schal, ein Geschenk für die Frau in Amerika. Beatrix sieht die Hände ihres Vaters, der Ehering locker am Finger, sieht, wie sie ein paar Fotos in eine Seitentasche schieben und dann die Gurte um den Koffer festzurren. Der handgeknüpfte Läufer mit dem Blumenmuster in Rosa und Blau, der seit jeher neben ihrem Bett gelegen hat, in der einen Ecke ein Fleck, der aussieht wie ein Hundekopf. Der ungewohnte Duft nach Pfannkuchen, der Zucker von den Nachbarn geborgt, damit das letzte Frühstück etwas Besonderes ist.

Einen Monat zuvor hatte ihre Mutter sie beim Heimkommen allein im Wohnzimmer auf dem Fußboden vorgefunden, wo sie Solitär spielte, die Gasmaske vor dem Gesicht. Beatrix trug sie jetzt immer, wenn sie allein war, obwohl sie das Gefühl und vor allem den Geruch schrecklich fand, wie Teer auf einer heißen Straße. Die Jungen in der Schule trugen sie während der Pause und jagten einander über den Hof, ihre Grunzgeräusche gedämpft durch die Maske. Doch Beatrix wusste, dass sie ihr das Leben retten konnte. Ihr Onkel war im ersten Krieg verbrannt worden, über seine Arme liefen Flüsse aus dunkelroter Narbenhaut. Ihre Mutter hatte die Einkäufe fallen gelassen, als sie sie mit der Maske erblickte, und ein kostbares Ei war auf dem Dielenboden zerbrochen. Beatrix weiß, dies war der Moment, als ihre Mutter beschlossen hat, dass die Tochter nicht bleiben konnte.

Schon verblassen ihre Erinnerungen an den Ballsaal. Nur spätnachts tauchen einzelne Schnipsel davon auf. Die großen Buchstaben des Alphabets, die durch den Raum gereicht werden. Ein dunkler Balkon voller Erwachsener, die nach unten schauen und winken. Eine Frau, die weint. Fremdartige amerikanische Akzente.

Die Rücken ihrer Eltern, als sie davongehen. Die Hand ihres Vaters auf der Schulter ihrer Mutter. Eine Laufmasche im Strumpf ihrer Mutter.