Fiona Lucas: Die Sammlerin der Erinnerungen


Heather, Archivarin Anfang 30, versucht alles, um nicht so zu werden wie ihre Mutter: Ihre Wohnung ist hell, sauber, minimalistisch eingerichtet. Wäre da nicht dieses Zimmer, in dem sie die "Erbstücke" ihrer Mutter weggeschlossen hat - und diese Kommode, in der Heathers eigene Sammlung stetig wächst ... Bis die Folgen eines Wasserrohrbruchs sie zwingen, sich nicht nur mit den Gegenständen in diesem Zimmer, sondern auch mit ihrer Kindheit auseinanderzusetzen, an die sie sich nur bruchstückhaft erinnert: vor allem an die Tage am Meer mit der Frau im roten Mantel. Zusammen mit ihrer Schwester Faith und ihrem Nachbarn Jason taucht Heather mit jeder Hinterlassenschaft tiefer in ihre Vergangenheit ein und kommt dabei einem dramatischen Familiengeheimnis auf die Spur ...

 

Roman

Insel (2024)

Originaltitel: The Memory Keeper

ISBN 978-3-458-68317-9

EUR 16,00




Leseprobe

 1

 

(...) Heather sollte nicht hier sein. Alles in ihr drängt sie, sich umzudrehen, das Geschäft sofort zu verlassen und zu ihrem Auto zurückzulaufen, aber sie tut es nicht. Stattdessen bleibt sie vor einem Regal mit Schuhen stehen. Sie stellt sich die Füße vor, die dort hineinschlüpfen werden – rosig und pummelig, mit unvorstellbar winzigen Zehen, die man unbedingt küssen möchte.

Wie kann etwas so Unschuldiges so gefährlich sein?

Ein Paar fällt ihr ins Auge. Sie sind nicht laut und bunt und übertrieben fröhlich wie die meisten anderen, sondern klein und zart, aus cremefarbenem Cord mit aufgestickten Gänseblümchen über den Zehen und einem Perlmuttknopf statt einer Schnalle. Vielleicht streckt sie deshalb die Hand aus und berührt sie, obwohl sie weiß, dass sie es nicht sollte. Vielleicht streicht sie deshalb über die winzigen, samtigen Rillen des Stoffs.

Damit ist die Grenze überschritten. Das war’s. Obwohl sie sich einredet, dass sie sich diesmal im Griff hat, ist ihr klar, dass sie es tun wird. Sie weiß, die hier sind es.

Sie zieht ihre Hand zurück und steckt sie in ihre Jackentasche, verankert sie dort, indem sie eine Faust macht, und wendet sich zum nächsten Regal: weiche Sonnenhüte für puppengroße Köpfe, hübsche, pastellfarbene Söckchen, ordentlich in Paaren aufgereiht. Sie versucht, die Schuhe zu vergessen.

Sie schlendert durch das Erdgeschoss der Mothercare-Filiale in Bromley – ein Weg, den sie schon so oft gegangen ist, dass sie gar nicht mehr darüber nachdenken muss. Seit Jahren kommt sie schon hierher und schaut sich um, betrachtet die winzigen Kleidungsstücke – alle so sauber und bunt und nach Hoffnung duftend –, obwohl sie gar kein Kind hat. Aber irgendetwas hat sich verändert. Es ist kein müßiger Zeitvertreib mehr, sondern ein Zwang.

Während sie umhergeht, sieht sie, dass die blonde Verkäuferin – die herrische mit dem scharfen Blick – mehrere Leute an der Kasse bedient. Die andere, die Neue, versucht, einer hochschwangeren Frau vorzuführen, wie man einen der Kinderwagen zusammenklappt, doch weiß sie offenbar selbst nicht, wie es geht. Zusammen mit der Kundin sucht sie nach dem entscheidenden Knopf oder Riegel. Sonst kann Heather niemanden sehen.

Da tut sie es.

Sie dreht sich um und geht zurück zum Schuhregal. Ihre Schritte sind auf dem PVC kaum zu hören. Wie ferngesteuert greifen ihre Hände nach dem Plastikbügel mit den Gänseblümchenschuhen und stopfen ihn in ihre Handtasche. 

Sie blickt sich um. Die beiden Verkäuferinnen sind immer noch beschäftigt und schauen nicht in ihre Richtung. Niemand ruft. Niemand läuft auf sie zu. Mit wild pochendem Herzen steuert sie auf den Ausgang zu, bemüht, so zu tun, als wäre dies ein ganz normaler Samstagnachmittag.

Als sie durch die Tür in die warme Frühlingsluft tritt, ist ihr so übel, dass sie sich fast übergeben muss. Heftig blinzelnd geht sie die Fußgängerzone der High Street hinunter, ohne Plan, ohne Ziel.

Eine leise Stimme in ihrem Kopf drängt sie, umzukehren und das Ganze rückgängig zu machen, die Schuhe wieder an ihren Platz zurückzubringen – niemand wird je davon erfahren! – oder, noch besser, die Schuhe unauffällig aus ihrer Handtasche zu holen, sobald sie wieder im Geschäft ist, und sie an der Kasse zu bezahlen.

Da beginnt Heather zu laufen, angetrieben von Scham, Reue und Selbstekel, und sie hört erst auf, als sie in der obersten Ebene des Parkhauses angekommen ist und vor ihrem Auto steht. Sie erinnert sich nicht daran, wie sie auf den Knopf des Aufzugs gedrückt oder das Ticket in den Automaten gesteckt und wieder herausgezogen hat, während das Wechselgeld in das Ausgabefach klirrte. Aber es ist ihr egal. Sie springt in ihr Auto und knallt die Tür zu, um die Welt auszusperren und das, was sie gerade getan hat.

Sie wirft ihre Handtasche auf den Beifahrersitz und packt mit beiden Händen das Lenkrad. Nur so kann sie das Zittern unterbinden.

 

 

 

2

 

Heather ist versucht, ein Stück entfernt von ihrer Wohnung zu parken, obwohl sie weiß, dass es idiotisch ist. Die Polizei wird sie trotzdem finden. Vielleicht sind sie ihr schon von der High Street aus gefolgt. Oder sie fragen einfach ihr Kennzeichen ab, dann wissen sie, wo sie wohnt. Die haben mittlerweile Computer in ihren Autos, die so was können. Das weiß sie aus dem Fernsehen.

Sie parkt in der Einfahrt, so nah wie möglich an der Tür, dann schnappt sie sich ihre Handtasche und hastet in das große viktorianische Haus. Früher hat wahrscheinlich eine wohlhabende Familie aus der Mittelschicht dort gewohnt, aber jetzt ist es in drei Wohnungen aufgeteilt, hübsch, aber nicht besonders edel. Heather hält den Kopf gesenkt, als sie den Flur betritt, und geht, so schnell sie kann, zu ihrer Wohnungstür. Erst als sie ein Paar abgewetzte braune Wanderstiefel in ihrem Sichtfeld bemerkt, bleibt sie stehen und blickt auf.

„Ah“, sagt der Besitzer der Stiefel. „Ich habe gehofft, dass ich Sie treffe.“

Heather will etwas sagen, aber ihr Mund ist auf einmal ganz trocken. „W-wirklich?“, stottert sie.

Er nickt lächelnd. Diese kleine Geste genügt – ihr Magen macht einen olympiareifen Salto. Eine glatte Zehn von sämtlichen Wertungsrichtern.

Er fährt sich durch das Haar, das mal geschnitten werden müsste. „Ja ... Ich habe nämlich ein Problem mit den Rohren. Es ist jemand dagewesen, der sich das Ganze angesehen hat, und fürs Erste funktioniert alles wieder, aber er hat Carlton gesagt, dass möglicherweise das ganze Haus betroffen ist, also wundern Sie sich nicht, falls der sich bei Ihnen meldet.“

Heather nickt. Sie mag Carlton, ihren Vermieter, nicht besonders – er ist neugierig und sucht ständig nach einem Vorwand, um in ihre Wohnung zu kommen und dort herumzuschnüffeln –, aber sie hat bisher kein Problem mit den Rohren, ist also wohl erst einmal sicher vor ihm. „Danke für die Info“, sagt sie leise.

Jason tritt auf die unterste Treppenstufe, um in seine Wohnung im ersten Stock zurückzukehren. Die Bewegung durchbricht Heathers Trance, und sie erinnert sich wieder, warum sie es so eilig hat, zu ihrer Tür zu gelangen, warum die Handtasche so unter ihrem Arm brennt. Gerade als sie weitergehen will, dreht er sich um und lächelt sie erneut an. Sie muss sich zusammenreißen, um sich nicht an der kühlen Flurwand festzuhalten. 

„Irgendwie ist aus dem Kaffee nie was geworden“, sagt er und sieht sie unverwandt an. Meist fällt es ihr schwer, anderen Leuten in die Augen zu sehen, aber bei Jason ist es ein wenig leichter. „Meine Schwestern haben zusammengeworfen und mir eine von diesen schicken neuen Kaffeemaschinen zum Geburtstag geschenkt. Hätten Sie vielleicht Lust, sie zusammen mit mir einzuweihen?“

Sie spürt, wie alles in ihr zu ihm hindrängt, obwohl sie die Handtasche mit dem Ellbogen noch fester an den Körper drückt. Offenbar bemerkt er ihr Zögern, denn er fügt hinzu: „Oder lieber einen Instantkaffee? Ich bin berühmt für meinen Instantkaffee, wenn ich das mal ganz unbescheiden sagen darf.“

Der Inhalt ihrer Handtasche brennt noch heißer an ihren Rippen, und sie sieht ihn hilflos an. „Tut mir leid“, murmelt sie, „aber ich kann heute nicht ...“ Und bevor er ihre lahme Ausrede auseinanderpflücken kann, wendet sie sich ab und eilt zu ihrer Tür. Erst als sie sie von innen zugedrückt hat und sich dagegen lehnt, beruhigt sich ihr Herzschlag allmählich.

Sie atmet laut aus. Jason Blake. Er ist vor ein paar Monaten hier eingezogen, und jedes Mal, wenn sie ihm begegnet, fühlt sie sich so. Sie hat gedacht, es würde nach einer Weile aufhören, aber es wird eher noch schlimmer.

Sie schüttelt den Kopf, um das Bild von ihm loszuwerden – die große, lässige Gestalt und diese braunen Augen, die sie anlächeln –, dann öffnet sie die Augen, stößt sich von der Tür ab und geht durch den Flur in ihr Wohnzimmer. 

Allein hier drinnen zu sein, macht das Atmen wieder leicht.

Ihr Wohnzimmer liegt an der Rückseite des Hauses und geht auf einen langen, schmalen Garten hinaus, den sie mit den anderen Mietern teilt. Sie tritt an das große Erkerfenster mit der Terrassentür und blickt nach draußen. Jason findet, dass der Garten in den Fünfzigerjahren steckengeblieben ist. Er hasst die beiden schmalen Beete rechts und links am Zaun und den geraden Weg aus Betonplatten, der auf der einen Seite entlangführt, aber Heather mag es so. Es ist beruhigend.

Auch dieses Zimmer ist beruhigend, eine regelrechte Oase. Es steht nur das Nötigste darin: ein Sofa, ein Sessel und ein Bücherregal, ein Fernseher und ein kleiner Schreibtisch mit einer Vase darauf. Sie hält nichts davon, Dinge zu besitzen, die nicht regelmäßig benutzt werden. Sie sind eine Verschwendung von Raum, Energie und Gefühl.

Es gefällt ihr, dass sie mit geschlossenen Augen mitten im Zimmer stehen kann und weiß, wenn sie die Arme ausstreckt, ist um sie herum nur freier Raum. Genau das tut sie jetzt, und das Gefühl von Platz, das Wissen, dass die Wände weiß und leer sind, dass die Bücher im Regal perfekt aufgereiht stehen und dass die unechte Hortensie in der Vase auf dem Tisch niemals ein trockenes, totes Blatt fallen lassen wird, hilft ihr, mehr sie selbst zu sein.

Doch dann beginnt die Handtasche unter ihrem Arm wieder zu brennen, und ihr fällt ein, dass sie noch etwas tun muss. Sie geht durch den Flur zurück (auch hier weiße Wände ohne Fotos oder Bilder), vorbei an der Küche (makellos saubere Arbeitsfläche, alle Teelöffel in der Besteckschublade aneinandergeschmiegt) und bleibt vor einer Tür stehen.

Für Heather liegt dahinter nicht das Gästezimmer, obwohl es als solches gedacht ist, sondern ein fremdes Gebiet in ihrem kleinen Reich. Sie starrt auf den Türknauf aus Messing. Sie spürt, wie die Ruhe, die sich eben erst im Wohnzimmer in ihr ausgebreitet hat, wieder zu schwinden beginnt, aber sie weiß, was sie jetzt tun muss. Anders geht es nicht.

Der lange Schlüssel steckt wartend im Schloss, und während sie ihn umdreht, wappnet sie sich für das, was sie dort erwartet und was sie so wenig wie nur möglich ansehen will. Dann legt sich ihre Hand um den glatten, kalten Knauf und öffnet die Tür.

Es fühlt sich an, als würde der Inhalt des Raums auf sie zustürzen, als würde alles kämpfen, drängeln, schubsen, um zuerst bei ihr zu sein. Sie braucht ihre ganze Willenskraft, um nicht zurückzuweichen und wegzulaufen.

Vom Boden bis zur Decke ist alles voller Zeug. Das Zeug ihrer Mutter, in schwankenden Stapeln hineingepfercht. Zeug aus ihrem früheren Zuhause, das Heather seit Jahren nicht mehr betreten durfte und in das sie ohnehin keinen Fuß mehr setzen wollte. Dieser ganze Krempel gehört jetzt ihr, laut einem Testament, von dem sie nichts gewusst und dessen Auffinden geradezu an ein Wunder gegrenzt hat. Die Kartons, die alten Koffer, die Plastikkisten und die Tragetaschen. Alles gefüllt mit Zeug, das sie nicht will und das sie nicht interessiert. Allein bei dem Anblick verspürt sie den Drang, in die Dusche zu steigen.

Sie blickt auf den Rand der Ansammlung, wo ein etwa zwei Quadratmeter großes Stück Teppich sich wie ein kleiner Strand tapfer gegen die Flut stemmt, die ihn zu überschwemmen droht. Auf der einen Seite steht eine kleine Kommode. Stapel von alten Zeitungen und Zeitschriften wanken bedrohlich, als sie die mittlere Schublade aufzieht, aber sie tut es rasch und versucht sich einzureden, dass sie all das überhaupt nicht wahrnimmt.

Die Schublade ist angefüllt mit ihrer Schuld. Hastig nimmt sie die kleinen Cordschuhe aus ihrer Handtasche und stopft sie zwischen diverse Babyhüte, Strampler, Plüschtiere und Decken, alle noch mit dem Preisschild daran. Dann drückt sie die Schublade wieder zu, weicht zurück in den Flur und knallt die Tür so heftig zu, dass ihre Schlafzimmertür ebenfalls klappert.

Da lässt es allmählich nach, dieses juckende, quälende Gefühl, das sie den ganzen Tag begleitet und sie überhaupt erst dazu getrieben hat, in das Geschäft zu gehen. Den Rücken an die Wand gelehnt, lässt sie sich zu Boden gleiten und starrt auf das makellose Weiß der Tür, die sie gerade geschlossen hat, in der verzweifelten Hoffnung, es möge das Wissen darum auslöschen, was dahinter liegt.