Nguyễn Phan Quế Mai: Der Gesang der Berge


Hu'o'ng wächst bei ihrer Großmutter auf, mitten im vom Krieg gebeutelten Hanoi der frühen 1970er Jahre. Der Vater ist auf den Schlachtfeldern verschollen, ihre Mutter folgte ihm in der Hoffnung, ihn zu finden. Und die Großmutter erzählt Hu'o'ng an den vielen langen Abenden die Geschichte ihrer Familie, eine Geschichte, die in Frieden und Wohlstand ihren Anfang nimmt, aber im Zuge fremder Besatzung, Landreform und Krieg eine Geschichte von Vertreibung, Flucht und unsäglichem Leid wurde. Doch die Frauen ihrer Familie sind stark und entschlossen, dem Schicksal eine lebenswerte Zukunft abzutrotzen.

 

Roman

Insel (2021)

Originaltitel: The Mountains Sing

ISBN 978-3-458-17940-5

EUR 23,00




Leseprobe

Rot auf den weißen Körnern

 

Hà Nội, 1972-1973

 

Großmama hält meine Hand, während wir zur Schule gehen. Die Sonne sieht aus wie ein großes Eidotter, das zwischen den Häusern mit den Blechdächern hindurchspäht. Der Himmel ist so blau wie das Lieblingshemd meiner Mutter. Ich frage mich, wo meine Mutter wohl ist. Ob sie meinen Vater gefunden hat?

Ich halte den Kragen meiner Jacke zusammen, als der Wind uns entgegenbläst und eine Staubwolke aufwirbelt. Großmama beugt sich zu mir herunter und drückt mir ihr Taschentuch auf die Nase. Meine Schultasche baumelt an ihrem Arm, als sie sich die Hand vor das Gesicht hält.

Sobald sich der Staub gesetzt hat, gehen wir weiter. Ich lausche, aber ich höre keinen Vogel. Ich blicke mich um, aber nirgends ist eine Blume zu sehen. Auch kein Gras, nur Haufen aus zerbrochenen Ziegeln und verbogenem Metall.

„Sei vorsichtig, Guave.“ Großmama zieht mich von einem Bombenkrater weg. Sie spricht mich mit meinen Spitznamen an, um mich vor den bösen Geistern zu schützen, die, wie sie glaubt, über der Erde schweben und nach hübschen Kindern Ausschau halten, um sie zu entführen. Sie hat gesagt, mein richtiger Name Hương – „Duft“– würde sie anlocken.

„Wenn du nach Hause kommst, gibt es dein Lieblingsessen, Guave“, sagt Großmama.

Phở-Nudelsuppe?“ Ich hüpfe vor Freude.

„Ja ... Während der Bombenangriffe konnte ich nicht kochen, aber heute ist es ruhig, und das sollten wir feiern.“

In dem Moment zerstört eine Sirene unseren Augenblick des Friedens. Aus einem Lautsprecher, der an einem Baum befestigt ist, schallt eine Frauenstimme: „Achtung, Bürger! Achtung, Bürger! Amerikanische Bomber im Anflug auf Hà Nội. Entfernung einhundert Kilometer.“

Ôi trời đất ơi!“ Großmama ruft Himmel und Erde an. Sie läuft los und zieht mich mit sich. Überall strömen Menschen aus ihren Häusern wie Ameisen aus ihren kaputten Bauen. In der Ferne heulen die Sirenen vom Dach des Opernhauses.

„Da!“ Großmama stürzt auf einen Luftschutzbunker zu, der in die Straße hineingegraben ist, und zieht den schweren Betondeckel hoch.

„Kein Platz“, ruft jemand von unten. In der runden Grube, die nur für eine Person vorgesehen ist, kauert ein Mann. Schlammiges Wasser reicht ihm bis zur Brust.

Sofort schließt Großmama den Deckel wieder. Sie zieht mich zu einem anderen Bunker.

„Achtung, Bürger! Achtung, Bürger! Amerikanische Bomber im Anflug auf Hà Nội. Entfernung sechzig Kilometer. Bewaffnete Truppen in Kampfbereitschaft gehen.“ Die Frauenstimme klingt jetzt drängender. Die Sirenen sind ohrenbetäubend.

Ein Bunker nach dem anderen ist voll. Die Leute rennen kopflos vor uns hin und her und lassen Fahrräder, Karren und Taschen zurück. Ein kleines Mädchen steht ganz allein da und schreit nach seinen Eltern.

„Achtung, Bürger! Achtung, Bürger! Amerikanische Bomber im Anflug auf Hà Nội. Entfernung dreißig Kilometer.“

Vor lauter Angst stolpere ich und stürze.

Großmama zieht mich hoch. Sie lässt meine Schultasche fallen und bückt sich, damit ich auf ihren Rücken springen kann. Dann läuft sie los, die Arme um meine Beine geschlungen.

Ein Dröhnen kommt näher. In der Ferne donnern Explosionen. Ich klammere mich mit schwitzigen Händen an Großmamas Schultern und drücke das Gesicht an ihren Hals.

„Achtung, Bürger! Achtung, Bürger! Weitere amerikanische Bomber im Anflug auf Hà Nội. Entfernung einhundert Kilometer.“

„Lauft zur Schule. Die werden sie nicht bombardieren“, ruft Großmama ein paar Frauen zu, die kleine Kinder im Arm und auf dem Rücken tragen. Trotz ihrer zweiundfünfzig Jahre ist sie stark. Sie läuft an den Frauen vorbei Richtung Schule, und ich werde bei jedem Schritt auf und ab geworfen. Ich vergrabe das Gesicht in ihrem langen schwarzen Haar, das genauso riecht wie das von meiner Mutter. Solange ich ihren Duft riechen kann, wird mir nichts passieren.

„Komm mit, Hương.“ Großmama bückt sich keuchend. Ich klettere hinunter, und sie zieht mich auf den Schulhof. Neben einem der Klassenräume ist ein leerer Bunker. Sie springt hinein, und als ich ihr folge, umklammert mich eisiges Wasser bis zum Bauch. Es ist so kalt, schon fast Winter.

Großmama zieht den Deckel zu. Dann drückt sie mich an sich, und ich spüre die Trommel ihres Herzschlags in meinem Blut. Ich danke Buddha für das Geschenk dieses Bunkers, der groß genug für uns beide ist. Ich habe Angst um meine Eltern, die irgendwo auf den Schlachtfeldern sind. Wann werden sie zurückkommen? Haben sie Onkel Đạt, Onkel Thuận und Onkel Sáng gesehen?

Die Explosionen kommen näher. Der Boden schwingt wie ein Hängematte. Ich halte mir die Ohren zu. Wasser schießt hoch und spritzt mir ins Gesicht, sodass ich nichts mehr sehe. Durch einen Spalt über meinem Kopf rieseln Staub und kleine Steine herab. Das Geräusch von Flakfeuer. Hà Nội wehrt sich. Wieder Explosionen. Sirenen. Schreie. Etwas stinkt verbrannt.

Großmama legt die Hände vor der Brust aneinander. „Nam Mô A Di Đà Phật, Nam Mô Quan Thế Âm Bồ Tát.“ Eine Flut von Gebeten an Buddha strömt von ihren Lippen. Ich schließe die Augen und folge ihrem Beispiel.

Immer wieder Bombendonner. Dann herrscht Stille. Plötzlich ein schrilles Kreischen. Ich zucke zusammen. Eine mächtige Explosion schleudert Großmama und mich gegen den Deckel des Bunkers. Vor Schmerz wird mir schwarz vor den Augen.

Im Fallen trete ich versehentlich gegen Großmamas Bauch. Ihre Augen sind geschlossen, die Hände liegen wie eine knospende Lotosblume vor ihrer Brust. Sie betet weiter, während der Donner verstummt und Schreie erklingen.

„Großmama, ich hab Angst.“

Ihre Lippen sind blau und zittern vor Kälte. „Ich weiß, Guave ... Ich auch.“

„Großmama, wenn sie die Schule bombardieren, stürzt der Bunker dann ein?“

Sie richtet sich mühsam auf und schließt mich in ihre Arme. „Ich weiß es nicht, Liebes.“

„Und wenn er einstürzt, müssen wir dann sterben?“

Sie drückt mich an sich. „Guave, wenn sie die Schule bombardieren, dann stürzt vielleicht der Bunker ein, aber wir sterben nur, wenn Buddha uns sterben lässt.“

 

Wir starben nicht an jenem Tag im November 1972. Als die Sirenen verkündeten, dass die Gefahr vorüber war, kletterten Großmama und ich aus dem Bunker, zitternd wie junges Laub, und stolperten zurück zur Straße. Mehrere Gebäude waren eingestürzt, und überall lag Schutt. Hustend bahnten wir uns unseren Weg. Wolken aus Rauch und Staub wirbelten umher und brannten mir in den Augen. 

Ich hielt Großmamas Hand umklammert, während um uns herum Frauen schreiend neben Toten knieten, deren Oberkörper mit abgewetzten Strohmatten abgedeckt waren. Nur die Beine ragten heraus, zerfetzt und voller Blut. An einem kleinen Bein hing noch ein rosafarbener Schuh. Das tote Mädchen musste ungefähr so alt gewesen sein wie ich.

Klatschnass und schlammverschmiert zog Großmama mich mit sich, immer schneller, vorbei an Leichenteilen und eingestürzten Häusern.

Unter dem großen bàng-Baum jedoch stand unser Haus friedlich im Sonnenlicht. Es war auf wundersame Weise unversehrt geblieben. Ich riss mich los und umarmte die Haustür.

Großmama half mir eilig, etwas Trockenes anzuziehen, und steckte mich ins Bett. „Bleib hier, Guave. Falls die Flugzeuge kommen, spring da hinein.“ Sie deutete auf die Grube, die mein Vater neben dem Eingang des Schlafzimmers in den Lehmboden gegraben hatte. Sie war groß genug für uns beide, und sie war trocken. Hier fühlte ich mich sicherer, unter den wachen Augen meiner Vorfahren, die vom Familienaltar auf unserem Bücherregal herabschauten.

„Wo gehst du denn hin, Großmama?“, fragte ich.

„Zu meiner Schule, um zu sehen, ob meine Schüler Hilfe brauchen.“ Sie zog die dicke Decke bis hoch zu meinem Kinn.

„Aber das ist doch gefährlich ...“

„Es ist nur zwei Blocks entfernt, Guave. Sobald ich die Sirenen höre, laufe ich sofort nach Hause. Versprichst du mir, dass du hierbleibst?“

Ich nickte.

Großmama ging zur Tür, kam jedoch noch einmal zurück und legte mir ihre warme Hand aufs Gesicht. „Versprichst du mir, dass du nicht nach draußen gehst?“

Cháu hứa.“ Ich lächelte, damit sie sich keine Sorgen machte. Sie hatte mir noch nie erlaubt, alleine irgendwohin zu gehen, selbst in den Monaten ohne Bomben. Sie hatte immer Angst, ich könnte verloren gehen. Ob es wohl stimmte, was meine Onkel und Tanten sagten? Dass Großmama sich so um mich sorgte, weil ihren Kindern schlimme Dinge zugestoßen waren?

Als sie die Tür hinter sich zuzog, schlüpfte ich aus dem Bett und holte meinen Schreibblock. Ich tauchte die Spitze meiner Schreibfeder in das Tintenfass. „Liebste Mutter, liebster Vater“, begann ich und fragte mich, ob meine Briefe sie wohl je erreichen würden. Die beiden zogen mit ihren Truppen umher und hatten keine feste Anschrift.

 

Ich las wieder einmal Bạch Tuyết và bảy chú lùn und war ganz in die Geschichte von Schneewittchen und ihren Freunden, den sieben Zwergen, versunken, als Großmama mit meiner Schultasche am Arm zurückkam. Ihre Hände bluteten, weil sie versucht hatte, Leute zu befreien, die unter dem Schutt vergraben waren. Sie zog mich in ihre Arme und hielt mich ganz fest.

An dem Abend kroch ich unter unsere Decke und lauschte auf Großmamas Gebete und den rhythmischen Klang ihrer hölzernen Glocke. Sie betete dafür, dass Buddha und der Himmel halfen, den Krieg zu beenden, und für die unversehrte Rückkehr meiner Eltern und Onkel. Ich schloss die Augen und tat es ihr gleich. Lebten meine Eltern noch? Vermissten sie mich ebenso sehr wie ich sie?

Wir wären gerne zu Hause geblieben, aber aus den Lautsprechern auf den Straßen schallte der Befehl, dass alle Bürger Hà Nội verlassen sollten. Großmama sollte ihre Schüler und deren Familien zu einem abgelegenen Ort in den Bergen führen und dort mit dem Unterricht fortfahren. 

„Wohin gehen wir, Großmama?“, fragte ich.

„In das Dorf Hòa Bình. Dort werden uns die Bomben nicht finden, Guave.“

Ich fragte mich, wer einen so schönen Namen für das Dorf ausgewählt hatte. Hòa Bình stand auf den Flügeln der Tauben, die in meinem Klassenzimmer in der Schule an die Wand gemalt waren. Hòa Bình war in meinen Träumen blau – die Farbe, die meine Eltern nach Hause brachte. Hòa Bình bedeutete etwas Schlichtes, Ungreifbares und doch überaus Kostbares: Frieden.

„Ist das weit weg? Wie kommen wir dorthin?“

„Zu Fuß. Es sind nur einundvierzig Kilometer. Zusammen schaffen wir das doch, oder?“

„Und was ist mit Essen?“

„Oh, keine Sorge. Die Bauern werden uns etwas geben. In schweren Zeiten halten die Menschen zusammen.“ Großmama lächelte. „Wie wär’s, wenn du mir beim Packen hilfst?“

Während wir uns auf die Reise vorbereiteten, begann sie neben mir zu singen. Sie hatte eine wunderschöne Stimme, genau wie meine Mutter. Früher hatten sie sich oft alberne Lieder ausgedacht und gesungen und gelacht. Ach, wie ich diese fröhlichen Momente vermisste. Als Großmama jetzt sang, öffneten mächtige Reisfelder ihre Arme für mich, Störche hoben mich auf ihren Flügeln in die Luft, und Flüsse trugen mich mit ihren Strömungen davon.

Großmama breitete ihr Reisetuch aus. Sie legte unsere Kleider in die Mitte, darauf kamen mein Schreibblock, meine Schreibfeder und das Tintenfass, dann ihre Schulbücher und ganz obendrauf ihre Gebetsglocke. Dann knotete sie jeweils die beiden gegenüberliegenden Ecken zusammen, sodass sie sich das Bündel über die Schulter hängen konnte. An ihrer anderen Schulter hing ein langes Bambusrohr, das mit ungekochtem Reis gefüllt war. In meine Schultasche hatte sie bereits Wasser und Proviant gepackt.

„Wie lange werden wir fort sein, Großmama?“

„Ich weiß es nicht. Ein paar Wochen vielleicht?“

Ich ging zum Regal und strich mit der Hand über die Buchrücken. Vietnamesische Märchen, russische Märchen, Die Tochter des Vogelverkäufers von Nguyễn Kiên, Die Schatzinsel von einem ausländischen Autor, dessen Namen ich nicht aussprechen konnte.

Großmama lachte, als sie den Bücherstapel in meinen Händen sah. „Die können wir nicht alle mitnehmen, Guave. Such dir eins davon aus. Wir können uns dort bestimmt welche ausleihen.“

„Aber lesen Bauern denn Bücher?“

„Meine Eltern waren doch auch Bauern, und sie hatten alle Bücher, die du dir vorstellen kannst.“

Ich ging noch einmal das Regal durch und entschied mich für den Roman Das Land und die Wälder im Süden von Đoàn Giỏi. Vielleicht war meine Mutter ja im miền Nam, dem Land im Süden, angekommen und hatte meinen Vater gefunden. Ich wollte mehr über dieses Land wissen, das uns erst die Franzosen weggenommen hatten und das nun von den Amerikanern besetzt war.

Großmama klebte einen Zettel an die Haustür, dass wir in Hoà Bình waren, für den Fall, dass meine Eltern und meine Onkel zurückkamen. Bevor wir aufbrachen, berührte ich die Tür noch einmal. In meinen Fingerspitzen spürte ich das Lachen meiner Eltern und meiner Onkel. Im Rückblick frage ich mich immer noch, was ich mitgenommen hätte, wenn ich gewusst hätte, was mit uns geschehen würde. Vielleicht das Schwarzweißfoto von der Hochzeit meiner Eltern. Aber ich weiß, am Rand des Todes ist kein Raum für Nostalgie.

Bei Großmamas Schule stießen wir zu der Schar von Lehrern, Schülern und deren Familien, von denen manche schwer beladene Fahrräder dabei hatten, und zusammen schlossen wir uns dem Menschenstrom an, der Hà Nội verließ. Alle trugen dunkle Kleider, und die Metallteile der Karren und Fahrräder waren abgedeckt, damit sie kein Sonnenlicht reflektierten und uns an die Bomber verrieten. Niemand sagte etwas. Alles, was ich hörte, waren Schritte und hier und da das Weinen eines Säuglings. Angst und Sorge hatten tiefe Furchen in die Gesichter der Menschen gegraben. 

Ich war zwölf Jahre alt, als wir uns auf diesen Fußmarsch von einundvierzig Kilometern machten. Die Reise war anstrengend, aber Großmamas Hand wärmte meine, wenn der Wind uns seine bittere Kälte entgegenschlug. Damit ich nicht hungern musste, gab sie mir ihr Essen und tat so, als wäre sie schon satt. Sie sang zahllose Lieder, um meine Angst zu vertreiben. Wenn ich müde war, trug sie mich auf ihrem Rücken, und ihr langes Haar schmiegte sich um mein Gesicht. Wenn es regnete, legte sie ihre Jacke um mich. Ihre Füße waren blutig und voller Blasen, als wir schließlich in Hòa Bình ankamen, das versteckt in einem Tal lag, von Bergen umschlossen.

Wir wohnten bei Herrn und Frau Tùng, einem alten Bauernpaar. Die beiden ließen uns auf dem Fußboden in ihrem Wohnzimmer schlafen; sonst war in ihrem kleinen Haus nirgendwo Platz. An unserem ersten Tag in Hòa Bình entdeckte Großmama am nächstgelegenen Berg einen ausgetretenen Pfad, der im Zickzack zu einer Höhle hinaufführte. Einige Leute aus dem Dorf nutzten die Höhle als Bunker, und Großmama beschloss, dass wir es ihnen gleichtun sollten. Obwohl Herr Tùng meinte, die Amerikaner würden das Dorf bestimmt nicht bombardieren, übten Großmama und ich den ganzen nächsten Tag, den Weg hoch- und runterzuklettern, bis meine Beine sich anfühlten, als hätte sie jemand mit dem Hammer weichgeklopft.

„Guave, wir müssen es jederzeit schaffen, hier raufzuklettern, selbst mitten in der Nacht und ohne Licht“, sagte Großmama keuchend, als wir in der Höhle standen. „Und du musst mir versprechen, dass du immer an meiner Seite bleibst, hörst du?“

Ich sah den Schmetterlingen zu, die im Eingang umherflatterten. Ich sehnte mich danach, die Gegend zu erkunden. Ich hatte gesehen, wie die Dorfkinder nackt in einem Teich badeten, auf Wasserbüffeln durch schlammige Felder ritten und auf Bäume kletterten, um an Vogelnester heranzukommen. Wie gerne hätte ich Großmama gefragt, ob ich mit ihnen spielen durfte, aber sie sah mich mit solcher Sorge an, dass ich nickte.

Als wir uns in unserem vorübergehenden Zuhause einrichteten, gab Großmama Frau Tùng unseren Reis und etwas Geld, und wir halfen ihr, die Mahlzeiten zuzubereiten, holten Gemüse aus dem Garten und wuschen das Geschirr. „Du bist wirklich eine große Hilfe“, sagte Frau Tùng zu mir, und ich fühlte mich gleich ein bisschen erwachsener. Ihr Zuhause war anders als unseres in Hà Nội, aber auch hier waren die Fenster mit schwarzem Papier zugeklebt, damit die amerikanischen Bomber nachts kein Lebenszeichen von uns sehen konnten.

Großmama sah anmutig aus, wenn sie im Innenhof des Tempels unterrichtete. Die Schüler hockten mit wacher Miene vor ihr auf der Erde, und am Ende jeder Lektion brachte sie ihnen eines ihrer Lieder bei.

„Der Krieg zerstört vielleicht unsere Häuser, aber unseren Mut kann er nicht brechen“, sagte Großmama, und ihre Schüler und ich sangen so laut, dass wir ganz heiser wurden und so klangen wie die Frösche in den umliegenden Reisfeldern.

Die Geschichte in dem Buch Das Land und die Wälder im Süden, die 1945 spielte, packte mich von der ersten Seite an. Der Süden war üppig und grün und die Menschen dort glücklich und großzügig. Sie aßen Schlangen und Hirsche, jagten Krokodile und sammelten Honig in den dichten Mangrovenwäldern. Ich unterstrich schwierige Wörter und Ausdrücke aus dem Süden, und Großmama erklärte sie mir, wenn sie Zeit dazu hatte. Ich weinte mit An, der auf der Flucht vor den grausamen französischen Soldaten seine Eltern verlor, und fragte mich, warum immer wieder fremde Armeen in unser Land einmarschierten. Erst die Chinesen, dann die Mongolen, die Franzosen, die Japaner und nun die amerikanischen Imperialisten. 

Während ich auf meiner Fantasiereise in den Süden floh, fielen die Bomben auf Hà Nội, das Herz unseres Nordens. Ob Tag oder Nacht – sobald der Gong erklang, nahm Großmama meine Hand und zog mich den Berg hinauf. Der Anstieg dauerte eine halbe Stunde, und ich durfte nie eine Pause machen. Wenn wir bei der Höhle ankamen, donnerten riesige Metallvögel über uns hinweg. Ich hielt mich an Großmama fest und war froh über die Höhle, aber zugleich hasste ich sie auch, denn von dort aus konnte ich sehen, wie meine Stadt in Flammen aufging.