Gillian Best: Martha und das Meer


Dover, um 1950: An einem Sommertag fällt Martha beim Angeln ins Wasser - aus dem Schock wird eine tiefe Faszination für das Meer. Zehn Jahre später ist sie mit ihrer Jugendliebe John verheiratet, kümmert sich um die Kinder und macht den Abwasch. Doch sie sehnt sich nach Freiheit, und eines Tages geht sie hinunter an den Strand und schwimmt hinaus ins Offene. Zehnmal wird sie den Ärmelkanal durchqueren. Aber kann die Liebe, die ihre Familie zusammenhält, den Wellen des Lebens standhalten?

Roman

Droemer (2019)

Originaltitel: The Last Wave

ISBN 978-3-426-30713-7

EUR 12,99




Leseprobe

Das grelle Küchenlicht beleuchtete alles, was ich zu verbergen versucht hatte: das schmutzige Geschirr in der Spüle, den Stapel gewaschener Sachen, die gebügelt werden mussten, die Socken und die Unterwäsche, die über den Heizkörpern hingen, und die verstaubten Muscheln auf der Fensterbank, die zu säubern ich weder die Zeit noch die Energie hatte. 

Ich belud die Waschmaschine und stellte sie an, setzte einen Topf mit Wasser auf, um die Eier zu kochen, und steckte für die Kinder, die bald herunterkommen würden, zwei Scheiben Brot in den Toaster. Dann räumte ich die sauberen Teller weg und wusch die schmutzigen, die in der Spüle standen. Das Wasser sprudelte aus dem Hahn, und ich starrte geradeaus, während ich mechanisch schrubbte und spülte.

Es lag ein Rhythmus darin, und ich merkte, dass ich mitzählte: eins, zwei, drei, spülen, eins, zwei, drei, spülen, und immer so weiter, und ich hörte Jims Stimme damals im Meer, als er mir beibrachte, wie ich atmen sollte. Eins, zwei, drei, atmen. Das Spülwasser war eine aufgewühlte See, die Seifenberge Schaumkronen auf den Wellen, während das Besteck zum Ufer schwamm.

Im trüben Dämmerlicht des eisigen Nebels, der draußen vor dem Fenster hing, setzte ich Teewasser auf. Diese wenigen Morgenminuten, bevor meine Familie aufwachte, waren die einzigen, die ich für mich allein hatte, und ich nannte sie Morgenminuten, weil seit zehn Jahren jeder Morgen genau gleich begann: Um halb sieben stand ich leise auf, schlüpfte in meinen Morgenmantel und begann, Frühstück zu machen.

Obwohl ich schon so viel Geschirr abgespült hatte wie ein Küchenmädchen, war mir die Verbindung zum Meer bisher noch nie in den Sinn gekommen. Es war so lange her, seit ich zuletzt durch die Brecher gekrault war, dass ich nicht wusste, ob ich es überhaupt noch konnte, und obwohl das Schwimmen in meine Muskeln, in das Gedächtnis meines Körpers eingegraben sein musste, zählte nicht nur der Bewegungsablauf. Um im Meer zu schwimmen, brauchte man eine Konzentration, die ich nicht länger aufbringen konnte.

Das Haus war ein einziges Chaos, und ich würde wahrscheinlich den ganzen Vormittag, wenn nicht sogar länger brauchen, um alles aufzuräumen, bevor Johns Chef zum Abendessen zu uns kam. Allein die Vorstellung war einschüchternd und demoralisierend, und ich hätte mich am liebsten ein paar Minuten hingesetzt und mich bemitleidet. Aber ich hörte nichts, was darauf hinwies, dass meine Kinder sich anzogen und für die Schule bereit machten, also würde mein Selbstmitleid warten müssen.

„Harriet“, rief ich und lief die Treppe hinauf. „Zeit aufzustehen, Süße.“ Ich wartete auf eine Antwort, und als keine kam, schaltete ich das Licht an. Ich hörte sie stöhnen. „In zehn Minuten bist du angezogen, gebürstet und unten am Frühstückstisch.“

Ich klopfte an Iains Tür, öffnete sie, und da saß er und spielte mit seinen Rennautos. „Bitte räum das jetzt weg und zieh dich an. In zehn Minuten gibt’s Frühstück.“

Er ignorierte mich. „Iain“, sagte ich, „wenn du nicht sofort damit aufhörst, nehme ich sie dir weg.“

„Mum“, quengelte er.

„Ich mein’s ernst.“

„Ich will kein Frühstück.“

„Doch, willst du. Du hast Hunger, glaub mir.“

„Ich will aber spielen.“

„Iain, ich will dich nicht noch mal bitten müssen.“

Er starrte mich wütend an und stapfte zu seinem Schrank. „Ich hasse dich. Warum musst du so gemein sein?“

Ich schloss die Tür, ohne seine Worte zu beachten. Ich hatte keine Zeit, verletzt zu sein. Außerdem wusste ich, dass er das Ganze längst vergessen haben würde, wenn er unten ankam. Dann ging ich in unser Schlafzimmer und bewegte mich leise, aber nicht zu leise, so dass John sanft geweckt werden würde. Ich zog die Vorhänge auf. Das gab mir genug Licht, um nach den Kleidern zu greifen, die ich schon gestern getragen hatte, und mich anzuziehen. Bevor ich wieder nach unten ging, stupste ich John an. Er gab nur ein Schnaufen von sich und drehte sich auf die andere Seite.

Ein paar Minuten später kochten die Eier, ich schnitt den Toast in Streifen und rief den Kindern zu, dass sie sich beeilen sollten.

„Ich kann meine Krawatte nicht finden“, sagte Iain, als er sich hinsetzte.

Ich stellte ihm seinen Teller hin. „Liegt sie vielleicht auf deiner Kommode? Hast du nicht noch eine im Schrank?“

„Ich hasse Eier“, maulte er.

„Sie dich auch, mein Schatz.“

„Ich will Toast mit Marmite.“

„Das ist eklig“, sagte Harriet und zog quietschend ihren Stuhl vom Tisch.

„Harry, bitte. Der Fußboden. Heb den Stuhl an. Wie oft habe ich dir das schon gesagt?“

„Kann ich am Wochenenende mit Katie nach Canterbury? Ihre Mum hat mich eingeladen. Sie wollen einkaufen gehen.“

„Darüber reden wir später.“ Ich gab ihr ihren Teller.

Sie schob ihn von sich. „Ich hab keinen Hunger.“

„Würdet ihr beide bitte einfach euer Frühstück essen?“

„Tut, was eure Mutter sagt“, befahl John. Er setzte sich auf seinen Platz am Kopfende des Tisches und schlug die Zeitung auf. „George und ich kommen um sechs, Martha. Ich habe mich erkundigt, und er trinkt nach dem Essen gerne einen Scotch.“ Ohne von der Zeitung aufzusehen, streckte er die Hand aus und tastete nach der Tasse Tee, die ich vergessen hatte.

Ich setzte erneut Wasser auf und stieß dabei meinen eigenen, inzwischen kalt gewordenen Tee um. Die braune Flüssigkeit lief über die Arbeitsfläche und tropfte zu Boden. Niemand erbot sich, mir beim Aufwischen zu helfen.

John spähte über seine Zeitung hinweg. „Das ist ein sehr wichtiges Abendessen.“

„Ich weiß“, erwiderte ich, während ich den ausgelaufenen Tee aufwischte.

Das Frühstück ging schnell vorüber. Die Kinder zankten sich, aber leise genug, dass ich nicht eingreifen musste, und John war in seiner eigenen Welt versunken, so dass ich ungestört überlegen konnte, wie ich die Liste meiner Aufgaben am besten organisieren sollte.

„Er erwartet bestimmt ein erstklassiges Essen“, sagte er auf dem Weg zur Tür. Ich sah zu, wie er durch den Garten ging und dann wieder umkehrte. Er steckte den Kopf zur Tür herein und sagte: „Wenn du es schaffst, kümmere dich doch noch ein bisschen um den Garten, ja?“

Es war ein ganz normaler Tag, eine Erledigung nach der anderen. So waren die Tage und Monate und Jahre ins Land gegangen, so waren meine Zwanziger wie in einem Nebel verschwunden, und so passiert es uns, dass wir die Einzelheiten der Versprechen vergessen, die wir geben.

Während Iain und Harriet in der Schule waren, hatte ich zwischen der Wäsche und dem Aufräumen tatsächlich ein wenig Zeit, und so beschloss ich, mal einen Blick in den Garten zu werfen. Es war kein guter Tag dafür; es sah aus, als würde sich der Nebel jeden Moment in Schneeregen oder Schlimmeres verwandeln. Das Wetter konnte in die eine oder in die andere Richtung kippen – was wohl auch auf alles Folgende zutraf. 

Ich zog meine Gummistiefel an und packte mich entsprechend ein: mein alter Fischerpullover, an dem der oberste Knopf fehlte, ein Wollschal undefinierbaren Ursprungs und eine Regenjacke in einem besonders ordinären Grünton. Als ich hinausging, verjagte das trübe Wetter die Dumpfheit der Hausarbeit aus mir. Die Szenerie hatte etwas Inspirierendes: das halb verrottete Laub, das den gefrorenen Matsch bedeckte; der Geruch nach Erde. Hier hatte ich das Gefühl, ich könnte etwas verändern, wenn ich mir Mühe gab. Mit zwei kleinen Kindern und einem Ehemann, die versorgt werden mussten, gab es Tage, an denen ich nur innerhalb der Grenzen unserer vier Wände existierte, und draußen zu sein, belebte mich. Die Feuchtigkeit, die sichtbar in der Luft hing, weckte etwas tief in meinem Innern, das im Winterschlaf gewesen war.

Ich hatte nie ein Händchen fürs Gärtnern gehabt, aber zumindest unternahm ich einen Versuch, was John gefallen würde, vor allem wenn jemand von unseren Nachbarn vorbeikam. In unserem Haus wurden Resultate ersetzt durch demonstrative Bemühungen.

Ich begann mit dem Myrtenstrauch und schnitt die Zweige zurück. Wahrscheinlich war es dafür die falsche Jahreszeit, aber es war die naheliegendste Stelle, um anzufangen, und meine Leistung wäre sofort zu sehen. Es war noch zu früh im Jahr für Knospen, ganz zu schweigen von Blüten, aber die Blätter waren hübsch, und ich nahm einen kleinen Zweig mit hinein.

Ich könnte gar nicht genau sagen, was mich dann packte. Vielleicht war es die Wärme im Haus, die im Vergleich zu der Kälte draußen erstickend wirkte. Oder die unterschiedlichen Gerüche: drinnen die Spuren von zahllosen Abendessen, die regelrecht im Haus festzusitzen schienen; draußen die Würze der Erde – und, verborgen in der Luft, die vom Meer heranwehte, der vertraute Duft von Algen und Salz.

Draußen hatte ich das Gefühl, etwas zu entkommen, einer wachsenden Enge, die mir die Luft zum Atmen nahm. Meine Gedanken wanderten zurück zum tröstlichen Zählen meiner Armschläge, während ich schwamm.

Der Myrtenstrauch war ein Souvenir aus längst vergangenen Tagen, aus der Zeit, als ich frisch verheiratet war und mich noch nicht in diesem Haus verloren hatte. Ich hatte ihn gepflanzt, um John und mich an einen Augenblick der Liebe zu erinnern, doch nun erinnerte er mich mehr und mehr daran, was ich aufgegeben hatte.

In der Küche füllte ich ein Glas mit Wasser, und als ich den Zweig hineinstellte, sah ich, dass tatsächlich eine kleine rosafarbene Blüte daran hing. Ich blickte auf die Frühstücksteller, die neben der Spüle standen und darauf warteten, abgewaschen zu werden. Es gab einen Haufen zu bügeln, und die Waschmaschine musste ausgeräumt werden. Johns Chef würde zum Abendessen kommen, was bedeutete, dass das ganze Haus gründlich geschrubbt und auf Hochglanz poliert werden musste. Der Rinderbraten musste rechtzeitig in den Ofen, die Kartoffeln mussten geschält und die Kinder gefüttert, gewaschen und nach oben geschickt werden, sobald sie aus der Schule kamen.

Ich stellte die Myrte auf den Tisch und drehte sie so, dass die Blüte zu mir schaute. Erinnerungen können auf verschiedene Weise ausgelöst werden, durch einen Geruch, einen Klang, einen Satz. Vielleicht war es die Form der Wolken, die an dem Tag aussahen wie mächtige Wellen, die aufsteigen und dann brechen, oder es war der auflandige Wind, der nach Salz und Algen roch. Ich kehrte zur Tür zurück, riss sie auf und atmete tief ein. Er war schwach, aber zutiefst vertraut: der unverkennbare Geruch des Meeres.

(...)

Die Feuchtigkeit in der Luft belebte mich, und ich dachte an etwas, das ich während des Gottesdienstes gehört hatte – zu dem John und ich nur gingen, damit alle sahen, dass wir anständige Gemeindemitglieder waren. Wir glaubten nicht an Gott, aber an das Urteil der Leute.

Denn ein Baum hat Hoffnung, auch wenn er abgehauen ist; er kann wieder ausschlagen, und seine Schößlinge bleiben nicht aus. Ob seine Wurzel in der Erde alt wird und sein Stumpf im Boden erstirbt, so grünt er doch wieder vom Geruch des Wassers und treibt Zweige wie eine junge Pflanze.

Ich rechnete nicht damit, Zweige zu treiben, aber ich merkte, wie ich mit immer schnelleren Schritten Richtung Meer ging. Als ich unweit der Shakespeare’s Bay ans Ufer kam, schäumte die Brandung an den Strand. Immer höher leckten die Wellen, bis über meine Stiefel, und ich wusste, die Flut kam, um mich zu begrüßen wie einen lange vermissten Freund.

(...)

Ich zog die Stiefel aus und warf sie hinter den Flutsaum, dann ließ ich das eisige Wasser meine Zehen abkühlen, bis ich sie nicht mehr spürte – und mich dadurch nicht länger an die Erde gebunden fühlte. Ich spürte, wie die Wellen mich riefen, mich mit dem Angebot eines vor langer Zeit gegebenen Versprechens in die kalten Tiefen lockten.

(...)

Ich konnte es nicht erklären. Ich wusste nicht, woher der plötzliche Drang kam – ob es die Hoffnung des Baumes war, wie ich es im Gottesdienst gehört hatte, oder irgendeine andere Kraft. Aber ich spürte ihn ganz deutlich in meinen Armen, Schultern und Händen. Zum Schwimmen brauchte man körperliche Kraft, aber es schenkte einem auch geistige Energie.

Außer mir war niemand am Strand, und so zog ich mir die nassen Sachen aus, bis auf BH und Schlüpfer, und ging zum ersten Mal seit Jahren wieder schwimmen. Diesmal bewegte sich mein Körper durch das Meer, wie er es immer getan hatte, und in gewisser Weise fühlte es sich an, als wäre ich nie außerhalb des Wassers gewesen. Ich lauschte auf das vertraute Gluckern in meinen Ohren, schmeckte das Salz, das mir in die Zunge biss und in den Augen brannte, und ließ mich von der Kraft des Meeres tragen.

Ich fühlte die Kälte und den brennenden Schmerz lange nicht benutzter Muskeln, aber vor allem fühlte ich, dass ich hier frei war.