Simon Van Booy: Mit jedem Jahr


Ein kleines Mädchen, das seine Eltern zu früh verloren hat. Ein Mann, gebrandmarkt vom Leben und zurückgezogen. Als Jason seine Nichte Harvey bei sich aufnimmt, wissen beide nicht, wie ihr Alltag zu zweit aussehen wird. Doch die Freude, die mit dem Mädchen einkehrt, lässt Jason ahnen, dass er seinem Leben doch eine Wendung geben kann - gemeinsam mit Harvey. Mit jedem Jahr wächst die Bindung zwischen den beiden, und Jason kann die Dämonen seiner Vergangenheit nach und nach vertreiben, indem er zum ersten Mal lernt, was das heißt: eine Familie sein.

Roman

Insel (2017)

Originaltitel: Father's Day

ISBN 978-3-458-17699-2

EUR 22,00




Leseprobe

Zu einem Weihnachtsfest schenkte Harveys Vater ihrer Mutter eine Halskette mit Diamanten. Harvey bekam Barbies Traumhaus.

Irgendwann um diese Zeit herum baute sie im Garten einen Schneemann. Ihre Großeltern waren aus Florida zu Besuch gekommen und sagten, die Kälte fehle ihnen gar nicht. Es war das letzte Mal, dass Harvey sie lebend sah. Sie hatten alle dicke Mäntel an und tranken heiße Schokolade aus Weihnachtsbechern. Harvey konnte ihren Becher mit den Handschuhen nicht richtig halten, und er fiel in den Schnee. Harvey lachte, denn was konnte der Schnee schon anrichten? Doch dann sah sie, dass der Becher einen Sprung hatte. Im ersten Moment war ihre Mutter ärgerlich, und Harvey fürchtete, sie hätte das Weihnachtsfest ruiniert.

Als sie aufhörte zu weinen, befestigte ihr Vater Lichterketten an der Hauswand. Harvey betrachtete sie und stellte sich vor, wie der Weihnachtsmann versuchte, mit seinem Schlitten zu landen.

Sie hatten den Weihnachtsbaum bei Home Depot gekauft und auf dem Autodach festgebunden. Er war so groß, dass er beinahe nicht durch die Haustür gepasst hätte. Harvey fand das lustig und wollte ein Bild davon malen.

Ein paar Tage bevor ihre Großeltern kamen, wurde das Haus geschmückt. Als sie den Weihnachtsschmuck auspackten, entdeckte Harvey ganz unten in einem der Kartons ein Fotoalbum. Sie nahm es mit beiden Händen heraus und schlug es auf. Einige der Fotos waren vergilbt, und es war schwer, irgendjemanden zu erkennen. Manche Seiten klebten so fest zusammen, dass man sie nicht öffnen konnte. Als ihr Vater das Album auf dem Schoß seiner Tochter erblickte, rief er seiner Frau zu: „Komm mal her und guck dir an, was Harvey gefunden hat!“

Harvey sagte, das Gesicht ihres Vaters sähe noch genauso aus wie damals in der dritten Klasse. Seine Frau betrachtete das Foto. „Stimmt.“ Sie lachte. „Ganz genauso.“

Harveys Mutter sagte, sie hätte diese Aufnahmen noch nie gesehen. Harveys Vater erinnerte sich an den Namen der Straße, in der er aufgewachsen war – Sycamore Avenue –, an das Auto, das sie gehabt hatten – einen Buick Regal –, und an den Namen des Hundes, den sie auf dem Queens Boulevard gefunden hatten: Birdie.

„Es war ein junger Labrador“, sagte ihr Vater. „Er kam einfach auf uns zugelaufen und fing an, meinem Bruder die Hand zu lecken.“

„Du hast einen Bruder?“, sagte Harvey.

Ihre Mutter streckte die Hand aus und klappte das Album zu. Ihre Unterlippe zitterte. Dann stand sie abrupt auf und blickte sich um. „Kommt, lasst uns das Haus schmücken!“

Harvey sah ihren Vater an. „Wie heißt er? Wie heißt dein Bruder?“

„Jason.“

„Nein, Steve!“, sagte ihre Mutter barsch. Dann verschwand sie ins Schlafzimmer. Der Knall der Tür ließ Harvey zusammenzucken.

Harveys Vater saß nur da und betastete einen Zweig des Weihnachtsbaums, als wäre er das Wertvollste überhaupt.

 

Später, als Harveys Vater irgendetwas auf dem Dach machte, fragte Harvey ihre Mutter, ob Jason Weihnachten allein sein würde. Harveys Mutter trocknete sich die Hände mit einem Papiertuch ab und ging in die Hocke, damit sie einander ansehen konnten. „Jason gehört nicht mehr zu unserer Familie“, sagte sie leise.

Harvey sah das Papiertuch in den Händen ihrer Mutter an. Es war weich geworden, und sie wollte es anfassen.

„Er ist kein netter Mann“, sagte ihre Mutter. „Sehr zornig.“

Harvey fragte, ob er einem Kind wehtun würde.

„Ich weiß es nicht“, sagte ihre Mutter. „Ich hoffe nicht. Aber ich schätze, er könnte alles Mögliche tun.“

Harvey sagte, das könne sie sich nicht vorstellen.

„Manche Leute kommen einfach böse auf die Welt“, erklärte ihre Mutter.

„Was hat er denn Böses getan?“

„Nun, er hätte beinahe jemanden getötet. Zum Glück kam die Polizei dazwischen.“

Harvey stellte sich den Schneemann Frosty aus dem Weihnachtsfilm vor, der vom Thermometer getötet wurde, weil es rot wurde und dafür sorgte, dass überall Blumen sprossen. Nicht einmal sein bester Freund hatte Frosty vor dem Schmelzen retten können.

„Er wäre immer noch im Gefängnis, wenn die Polizei nicht rechtzeitig gekommen wäre.“

Ein Vogel lenkte Harveys Blick zum Fenster. Im winterkahlen Garten leuchtete ein rosafarbenes Ei, das von Ostern übrig geblieben war.

„Kann ich mit Fingerfarben malen?“, fragte Harvey.

Ihre Mutter machte irgendetwas im Waschbecken. „Die Familie deines Vaters war nicht sehr glücklich“, sagte sie und wrang einen Lappen aus. „Es ist ein Wunder, dass dein Dad so gut geraten ist.“

Harvey hoffte, dass ihre Mutter nicht noch mehr sagen würde, und fragte, ob sie rausgehen dürfe.

„Es ist zu kalt“, sagte ihre Mutter.

„Kann ich dann mit Fingerfarben malen?“

„Ich versuche, dir etwas Ernstes zu erzählen, also hör mal einen Moment auf, an Fingerfarben zu denken, ja?“

Harvey verzog das Gesicht, als würde sie gleich anfangen zu weinen.

„Wir können froh sein, dass Daddy nicht wie sein älterer Bruder oder sein Vater ist.“

Harvey zuckte mit den Achseln. „Okay.“

„Eines Nachts hat Steves Vater versucht, das Haus anzuzünden – kaum zu glauben, oder? Und das, während seine Frau und seine Söhne schliefen.“

Harvey spürte das Züngeln der Flammen.

„Das kann der Alkohol mit einem Menschen machen, Harvey.“

„Wenn unser Haus brennen würde, würden dann auch meine Puppen verbrennen?“

Ihre Mutter hielt in der Bewegung inne.

„Würden meine Puppen dann in die Nachrichten kommen, Mommy?“, fragte Harvey und versuchte, sich dem Gefühl hinzugeben, dass Duncan für immer verloren war.

„Also wirklich, Harvey. Ich versuche, ehrlich zu dir zu sein. Du willst doch, dass ich ehrlich zu dir bin, oder?“

Harvey nickte.

„Das hier ist ein ernstes Thema“, sagte sie. „Unser Haus brennt nicht, und auch sonst keins. Aber dein Vater und sein Bruder hatten eine schwere Zeit, als sie Kinder waren. Sie haben sogar ein paar Monate in Pflegefamilien verbracht.“

„Was sind Pflegefamilien?“

„So was Ähnliches wie ein Waisenhaus, Harvey.“

„Und was ist das?“

„Erinnerst du dich an Annie? Den Film, den du zusammen mit Grandma und Grandpa gesehen hast, als sie das letzte Mal hier zu Besuch waren?“

„Der war langweilig.“

„Nein, war er nicht“, widersprach ihre Mutter. „Du fandest ihn toll. Es ist ein Film für Kinder.“

 

Als es dunkel wurde, hängten sie die restlichen Kugeln auf und sahen sich Weihnachtssendungen an. Harveys Mutter machte einen Schmorbraten zum Abendessen, und ihr Vater fuhr zum Dairy Barn, um Apple Cider dazu zu holen.

Als Harvey im Bett lag, drangen Stimmen in ihr Zimmer.

Sie setzte sich auf und sah zu ihren Puppen, die in einer Reihe auf der Kommode saßen. Die Puppen lauschten auch, dachte Harvey, aufmerksam und reglos.

 

„Es ist unser Haus, Steve!“, schrie ihre Mutter. „Es ist unser Haus, und deine Tochter wohnt hier! Deine Tochter!“

„Schieb Harvey nicht vor.“

„Das ist doch wohl nicht dein verdammter Ernst!“

Etwas fiel herunter und rollte über den Boden.

„Er ist ein verurteilter Verbrecher!“, schrie ihre Mutter. „Wer weiß, was er anstellen würde, um zu kriegen, was er will?“

Da wurde auch ihr Vater laut. „Hör auf mit deinen Vorurteilen! Jason gehört zu unserer Familie, ob es dir passt oder nicht.“

Jetzt weinte ihre Mutter. Sie tat Harvey leid.

„Haben wir nicht genug für ihn getan?“, sagte sie.

„Er ist immer noch mein Bruder. Er ist immer noch ein Mensch.“

„Bitte lass ihn nicht in unser Leben, ich flehe dich an. Stell dir doch nur mal vor, was passieren könnte.“

Harvey zog an der Kordel ihres rosafarbenen Drachen und lauschte dem Lied, das aus seinem Bauch drang.