Simon van Booy: Die Illusion des Getrenntseins


Simon van Booy: Die Illusion des Getrenntseins

Eine kleine Bäckerei in Paris, mitten in den Wirren des Zweiten Weltkriegs. Ein Soldat, dem in einem Akt der Güte das Leben geschenkt wird und der damit das Richtige tut. Eine mutige junge Frau, die offene Arme hat für ein Neugeborenes ohne Namen. Und ein Autor, der die Geschichte dieser Menschen in einer wunderbar zarten, eleganten Prosa erzählt – und dabei die unglaubliche Wucht menschlichen Schicksals entfaltet.
Als Martin schon fast alt genug für die Schule ist, erzählen ihm seine Eltern, dass ihnen vor einigen Jahren, mitten in den Kriegswirren, ein Fremder ein Baby auf den Arm gedrückt hat: ihn selbst. Er braucht Jahre, um seine Herkunft zu begreifen – und er braucht sein ganzes Leben, um dem Mann zu begegnen, der ihn einst gerettet hat. Und auch dann weiß er nicht, wer da vor ihm steht.

Roman

Insel (2014)

Originaltitel: The Illusion of Separateness

ISBN 978-3-458-17592-6

EUR 18,95




Leseprobe

Allein der Gedanke an ihn war ihnen ein Trost. Sie glaubten, dass er alles konnte und dass er sie beschützte.

Er hörte sich schweigend ihre Sorgen an.

Er erfüllte seine Pflichten, wenn sie noch schliefen, wenn er über sein Leben nachdenken konnte wie ein Kind, das aufs Meer hinausschaut. Bei Tagesanbruch stand er auf, füllte seinen Eimer und wischte mit Kiefernseife durch die Flure. Dort, wo er den Griff hielt, hatte er Schwielen. Der Eimer war blau und schwer zu tragen, wenn er gefüllt war. Das Wasser wurde schnell schmutzig, aber das störte ihn nicht. Wenn er fertig war, lehnte er den Mopp an die Wand und ging hinaus in den Garten.

Manchmal fuhr er zum Pier in Santa Monica. Allein.

Vor langer Zeit hatte er dort einer Frau einen Heiratsantrag gemacht.

Es war ein nebliger Morgen, und um sie herum wurden ihre Leben geschmiedet. Sie hörten die Wellen gegen die Mauer schlagen, aber sie sahen nichts.

Damals war Martin Bäcker im Café Parisienne. Er trug einen Schnurrbart und stand sehr früh auf. Sie war Schauspielerin, kam eines Morgens auf einen Kaffee herein und schaffte es dann nicht mehr zu gehen.

Das Starlight Retirement Home hätte ihr gefallen. Viele der Bewohner waren früher beim Film. Die Bademäntel, in denen sie zum Frühstück kommen, sind mit Monogrammen verziert. Sie nennen ihn Monsieur Martin, wegen seines französischen Akzents. Nach dem Abendessen sitzen sie um den Flügel herum und schwelgen in Erinnerungen. Sie haben dieselben Leute gekannt, aber ihre Geschichten sind verschieden. An der Häufigkeit, mit der ein Bewohner Gäste empfängt, bemisst sich sein Status.

Martin wird oft für einen Bewohner gehalten.

Es wäre einfacher, wenn die Leute wüssten, wie alt er ist, aber die Umstände seiner Geburt sind rätselhaft.

Aufgewachsen ist er in Paris. Seine Eltern hatten eine Bäckerei, und sie wohnten in den drei Zimmern darüber.

Als Martin alt genug war, um in die Schule zu gehen, setzten seine Eltern ihn mit einem Glas Milch an den Küchentisch und erzählten ihm die Geschichte, wie jemand ihnen ein Baby gegeben hatte.

„Es war Sommer“, sagte seine Mutter. „Damals war noch Krieg. Ich weiß nicht mal mehr, wie der Mann aussah, aber plötzlich hatte ich ein Baby in den Armen. Es ging alles so schnell.“

Martin gefiel die Geschichte, und er wollte mehr erfahren.

„Dann brachte sie das Kind in meine Bäckerei, damit es etwas zu essen bekam“, sagte sein Vater.

„Genau“, fügte seine Mutter hinzu. „So haben wir uns kennen gelernt.“

Sein Vater stand am dunklen Fenster und erzählte dem Spiegelbild seines Sohnes, dass sie Jahre gewartet hatten, bevor sie zu den Behörden gegangen waren.

Die Tränen seiner Mutter malten Punkte auf die Tischdecke. Martin betrachtete ihre Hände. Ihre Fingernägel waren glatt, mit aufsteigenden Monden. Sie drückte seine Wange, und er errötete. Er stellte sich die raue Hand eines Fremden vor und spürte das Gewicht eines Babys in seinen eigenen Armen.

Als er fragte, was aus dem Kind geworden war, mussten sie direkter werden. Martin starrte auf die Milch, bis ihm die Tränen kamen. Seine Mutter stand vom Tisch auf und kam mit einer Flasche Schokoladensirup zurück. Sie gab etwas davon in sein Glas und rührte es mit einem großen Löffel um.

„Unsere Liebe zu dir“, sagte sie, „wird immer größer sein als irgendeine Wahrheit.“

Ein paar Nächte durfte er in ihrem Bett schlafen, doch dann vermisste er seine Spielzeuge und das gewohnte, in dem er sich zu Hause fühlte.

Kurze Zeit später wurde seine Schwester Yvette geboren.

Als Yvette sechs Jahre alt war und Martin schon fast erwachsen, schlossen sie die Bäckerei in Paris und gingen nach Kalifornien.

Martin hatte nie so recht verstanden, warum sie mit der Adoption so lange gewartet hatten. Doch in seinem ersten Semester an einem kleinen College in Chicago, als er mit seiner Freundin rauchend im Bett lag, wurde das Geheimnis gelüftet.

Es schneite. Sie bestellten chinesisches Essen. Im Fernsehen begann gerade ein guter Film. Als Martin die Hand nach dem Aschenbecher ausstreckte, glitt die Decke von seinem Körper. Seine Beine waren so muskulös. Sie schmiegte die Wange daran. Er erzählte ihr von der West Hollywood High School, von seinem Bahnrekord, der immer noch ungebrochen war. Sie hörte ihm zu, dann gestand sie, dass sie sich schon länger fragte, warum Martin im Gegensatz zu anderen europäischen Männern beschnitten war.

Er ging nicht mehr zu den Vorlesungen.

Er las, bis alles vor seinen Augen verschwamm.

Er stand vor der Bibliothek, wenn sie öffnete, und arbeitete, bis sie schloss. Als die Leiterin darauf aufmerksam wurde, gab sie ihm ein Kühlschrankfach im Aufenthaltsraum der Mitarbeiter. Er bestellte Bücher mit unaussprechlichen Titeln. Jedes Foto war ein Spiegel.

Als das Semester zu Ende war, kehrte er nach Los Angeles zurück.

Seine Eltern hatten gewusst, dass er es irgendwann herausfinden würde, aber sie konnten ihm nichts Neues erzählen. Seine winzigen Kleider waren zu schmutzig gewesen, um sie aufzubewahren.

Er ging mit seiner Schwester zum Strand und sah ihr beim Schwimmen zu. Er saß auf der Treppe und hörte zu, wie seine Familie fernsah. Nachts fuhr er stundenlang mit dem Auto durch die Gegend.

Er arbeitete Café seiner Eltern. Sie verkauften Croissants und Obstkuchen in Kartons, die mit blau-weißem Zwirn zugebunden waren.

Eines Nachmittags, als Martin von seinen Lieferfahrten zurückkam, fand er die Tür des Cafés verschlossen vor, und die Jalousien waren heruntergelassen. Er betrat das Haus durch die Hintertür und stellte überrascht fest, dass die Küche im Dunkeln lag. Doch dann ging plötzlich das Licht an, und eine Menge Leute riefen: „Überraschung!“

Alle hatten sich schick gemacht, und die Stühle waren mit Luftballons geschmückt. Die Leute küssten ihn auf Stirn und Wangen. Viele von den Stammkunden waren da, und einige der Männer trugen eine Kippa. Musik begann zu spielen, und die Leute klatschten im Takt dazu.

Martin war sprachlos. „Ich verstehe nicht“, sagte er. „Ist etwas passiert?“

„Wir wollten dir nur eine Art Volljährigkeitsfest ausrichten“, sagte seine Mutter.

„Das ist in vielen Kulturen Tradition“, fügte sein Vater hinzu.

Danach wurde Martins Geschichte an jedem Abendessenstisch in Beverly Hills zum Besten gegeben. Leute kamen ins Café, um ihn kennen zu lernen, ihm ihre Geschichte zu erzählen, ihm Fotos zu zeigen und ihm zu versichern, dass er nicht allein war – dass er niemals allein sein würde. Eines Tages kam eine Frau herein, stand am Tresen und starrte Martin nur an. Dann fing sie an zu schreien: „Mein Sohn! Mein Sohn! Mein Sohn!“

Martins Eltern führten sie nach hinten und gaben ihr heißen Tee. Dann fuhr sein Vater sie nach Hause, wo ihre Schwester schon in der Einfahrt wartete.

Sonntags war am meisten zu tun.

Martin bediente die Gäste und verzierte Geburtstagskuchen mit Zuckerguss aus der Spritztüte. Ihm war schwindelig von der endlosen Liste von Namen; jeder einzelne eine leise Stimme, jeder einzelne ein pochendes Herz, doch nun lauter, stärker, unauslöschlich in ihrem Schweigen.

Er war in den Alptraum der Wahrheit wiedergeboren worden. Die Geschichte anderer war die ganze Zeit über seine eigene gewesen. Die Vorstellung davon war mehr, als er ertragen konnte. Menschen, die sich in der Kanalisation versteckten; Frauen, die im Dunkeln, im Dreck und in der Feuchtigkeit Kinder gebaren und sie dann erstickten, damit sie die anderen nicht verrieten.

Familien, die auseinander gerissen wurden wie Papierfetzen im Wind.

Sie alle wehte es ihm ins Gesicht.

Martin beschloss, nicht ans College zurückzugehen, und so weihte sein Vater ihn ein in die Geheimnisse von Mehl, Wasser, Hitze und Zeit. Er zeigte ihm Rezepte auf alten Postkarten mit winziger Schrift. Manchmal trank Audrey Hepburn hinten mit seiner Mutter Kaffee. Sie lachte und hielt den Becher mit beiden Händen. Arthur Miller und seine Schwester Joan kamen und bestellten Tee und Madeleines. Das Café war berühmt dafür, dass alles schnell ausverkauft war, und schloss oft schon um drei Uhr nachmittags.

Martin war ein guter Sohn. Er arbeitete hart und kümmerte sich um seine Eltern. Für ihn gab es nichts zu verzeihen. Das sagte er seiner Mutter auch, als sie 2002 im Sterben lag.

„Meine Liebe zu dir“, sagte er, „wird immer stärker sein als irgendeine Wahrheit.“